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Dienstag, 18. April 2006

Der alte Mann und das Weiß

Feierabend. Ich stapfe die schiefgetretenen Treppen des verlassenen Bürogebäudes hinunter und mache mich auf den Weg. Ich weiß noch nicht wohin, doch es geht nicht nach Hause, nein. Wie so oft am Freitagnachmittag juckt es mich in den Fingern, neue Motive mit meiner Kamera aufzunehmen. Die richtige Einstimmung für das Wochenende. Ich spüre die Schwere des Fotoapparates in meiner Manteltasche, meine Hand tastet über das kühle und handliche Gehäuse. Bilder fangen, Leben fangen, es vervielfältigen und beweisen, dass es da gewesen ist. Vorfreude auf neue Entdeckungen erfüllt mich, als ich die mir wohlbekannte, hunderte Male entlanggeeilte Straße, hinunterschlendere. Alles ist wie immer. Alles schon gesehen. Doch ich weiß, irgendwo wartet es auf mich, etwas, das ich noch nicht kenne. Eine neue Situation, eine winzige Veränderung, ein übersehenes Detail.

Ich überquere die Brücke. Kleine graue Eisschollen treiben träge auf dem Wasser. Die gegenüberliegende Seite der Straße erklimmend, befinde ich mich nun auf einem höhergelegten Gehweg, der zur abfallenden Häuserschlucht hin durch ein Geländer gesichert ist. Alles wieder und wieder gesehen, alles schon bekannt. Doch nein, etwas hat sich geändert, ist mir bisher nicht aufgefallen. Etwas hatte ich noch nie vorher wahrgenommen. Was ist das für ein weißes Haus, welches sich dort fast unsichtbar in die bunte Perlenschnur der Mehrgeschosser einreiht? Stand es schon immer dort? Ich bin stehengeblieben und starre aufmerksam hinüber. Je mehr ich es betrachte, um so seltsamer erscheint es mir. Die durchgehend weiße, fast durchscheinende Fassade fasziniert mich, insbesondere die kleinen Vorsprünge, Winkel und Skulpturen, die an ihr zu erkennen sind. Ich gehe näher an das Geländer heran und schaue nach unten, zum Eingang. Was ich jetzt sehe, fesselt mich noch mehr. Um es besser erkennen und vielleicht fotografieren zu können, versuche ich einen vorteilhafteren Platz am Geländer zu finden. Ich streiche durch einige Büsche und steige über rutschiges Geröll, bis ich ein besseres Blickfeld habe. Hier befinde ich mich gegenüber und schaue direkt in den kleinen, offenen, in das Haus eingelassenen und überdachten Vorhof. An sich nichts Besonderes, doch er ist ebenso weiß, wie das gesamte Haus und das Entzückendste ist, dass ebenfalls alles, was sich darin befindet, weiß ist. Da sehe ich weiße steinerne Tulpen auf weißen Regalen stehen, ebenso wie weiße Bücher und verschiedene andere weiße Dinge, die ich nicht erkennen kann. In einer Ecke türmen sich große weiße, steinerne Kugeln, die teilweise noch nicht fertig sind und auf ihre Vollendung warten. Und, zu allem Überfluss, liegt am Boden des Vorhofes ausgebreitet an großer, schneeweißer gehäkelter Teppich mit unzählbar vielen gehäkelten Blüten, Sternen und Schneeflocken, die daraus hervorblitzen.

Ich greife zu meiner Kamera und will gerade ein Foto dieses wundersamen Hauses machen, als ein Mann aus einer Türe in den Vorhof tritt. Auf den ersten Blick sieht er alt aus, denn er hat schlohweißes Haar und trägt eine große Brille, die ausnahmsweise nicht weiß ist. Ich lasse die Kamera sinken. Der Mann macht sich an einem Regal zu schaffen und sieht mich, nach einem kurzen Blick nach hinten, am Geländer stehen. Doch es scheint fast so, als hätte er auf mich gewartet.
„Ein schönes Motiv dieses Haus, nicht wahr? Fotografieren Sie ruhig.“ Seelenruhig macht er sich weiter an dem Regal zu schaffen, völlig unbekümmert darüber, eventuell mit auf dem Foto zu erscheinen. Deshalb setze ich die Kamera erneut an, um den netten alten Herrn mitsamt dem seltsamen Haus aufzunehmen. Aber irgendetwas hält mich davon ab, den Auslöser zu drücken. Es ist die Neugier, eine unbezähmbare Neugier, stärker als der Wunsch, das festzuhalten, was ich sehe. Ermutigt von der einladenden, ruhigen Art des Mannes spreche ich ihn an.
„Wohnt hier ein Bildhauer?“ frage ich.

„Ja“ antwortet er, „hier wohnt ein Bildhauer. Diese Dinge vor dem Haus gehören ihm.“

Mehr will er anscheinend nicht verraten und interessiert schaue ich die Fassade des Hauses hinauf, um zu erraten, hinter welchem Fenster der Bildhauer wohl zu finden ist.

„Hier kommen viele Menschen her, um zu fotografieren. Wie Sie sehen, ist alles in weiß. Er stellt nur weiße Skulpturen her. Das ist für viele wohl ein ungewöhnlicher Anblick.“
Er erzählt gerne. Fast könnte man meinen, er freue sich darüber, mit jemandem sprechen zu können, so wie das bei alten Menschen oft der Fall ist, wenn sie allein leben und nicht oft Besuch haben.

„Wenn hier so viele Menschen fotografieren, warum ist mir dann dieses Haus noch nie aufgefallen?“ hake ich nach.

Er zuckt mit den Schultern. Dann zündet er sich eine Zigarette an und legt sich flach mit dem Rücken auf den schneeweißen Teppich, ebenso weiß wie sein Haar. Versonnen blickt er in die Luft, die Hand mit dem Tabakstummel neben sich gebreitet. Ich fühle, dass er zu einem Plausch bereit ist, obwohl er lange schweigt. Ich weiß ebenfalls nichts zu sagen, doch es ist ein angenehmes Schweigen, ein vertrauliches Schweigen.

Er sieht irgendwie jung aus, wie er da auf diesem Teppich liegt. Jugendlich. Und rebellisch. Vielleicht liegt es an dieser Pose, die man von älteren Herrschaften nicht gewohnt ist, welche meist sogar Schwierigkeiten haben, wieder aus einem Sessel hochzukommen und die sich deshalb stets gesetzt in ihren schmalen Bahnen bewegen. Nun möchte ich viel lieber ihn fotografieren als das Haus. Er ist ebenso wundersam. Vielleicht noch wundersamer.
Ich frage ihn, ob er einverstanden ist. Er nickt und ich nehme mir vor, ihm einen Abzug des Fotos zu schicken. Doch irgendetwas lässt mich erneut zögern, den Auslöser zu drücken. Bevor ich es tun kann, schaut der alte Mann direkt nach oben, in mein Gesicht, schaut sehr ernst, schaut durch seine große Brille, und fragt mich, ob ich noch Zeit hätte. Etwas an der sonderbaren Betonung der Frage irritiert mich, ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstehe. Ich nicke trotzdem und sage: „Ja, bis es dunkel wird. Dann muss ich nach Hause.“

Er wirkt zufrieden und greift nach einem weißen Buch von einem Stapel in seiner Nähe. „Schauen Sie!“ und er streckt mir das Buch entgegen, es öffnend und in den Seiten blätternd, „Schauen Sie, alle Blätter weiß, vollkommen weiß, mhh.“
Ich bin überrascht. Viele weiße Bücher mit leeren weißen Blättern, wie verrückt! Der alte Mann jedoch ist nicht befremdet, sondern geradezu stolz. Behutsam, fast liebevoll, streicht er über die leeren Seiten. Mein Wunsch wird stärker, diese seltsame Szene festzuhalten, diesen seltsamen Mann festzuhalten.

Es beginnt zu schneien unter hinter dem schneeweißen Vorhang aus tanzenden Flocken scheint das Haus zu verschwimmen, mit dem Schnee zu verschmelzen, bis es sich beinahe nur noch schemenhaft erahnen lässt. Ein Schneegespinst, weiß in weiß.
Mich von diesem Anblick losreißend beschließe ich, nun endlich das Haus zu fotografieren. Prüfend schaue ich durch den Sucher. Das Haus ist nicht zu sehen. Also schwenke ich den Sucher langsam nach links und rechts, nach oben und unten, aber so viel ich auch suche, ein weißes Haus will nicht im Sucherfenster erscheinen. Entnervt lasse ich den Fotoapparat sinken. Vor mir erstreckt sich eine Reihe roter und brauner mehrgeschossiger Ziegelhäuser. Doch ein weißes Haus ist nicht dabei. Verwirrt, auch ein wenig erschrocken, lasse ich meine Augen die Straße hinauf- und hinunterwandern. Das kann doch nicht sein! Wo ist das weiße Haus? Träume ich? Atemlos blicke ich mich um, entdecke neben mir einen alten Mann, der mich unverwandt anschaut. Er sieht anders aus als der Mann aus dem wundersamen Haus. Ein schneeweißer, kurzer Backenbart umrahmt sein Gesicht und auf den schneeweißen Haaren trägt er eine schwarze Schiffermütze. Doch seine schalkhaft blitzenden, dunklen und jugendlichen Augen verraten ihn sofort. Ich bin mir sicher, dass er es ist. „Wo ist das Haus? Was ist passiert?“ frage ich verwundert, mich zu ihn hinwendend. Brillenlos und unergründlich lächelt er mich an. „Sehen Sie dieses rote Jugendstil-Haus da drüben?“ Noch immer lächelnd zeigt er mit dem Finger irgendwohin die Straße hinunter. „Wäre das nicht ein schönes Motiv für Sie und Ihre Kamera?“

Ulysses - ein Selbstversuch mit Folgen oder die Kunst, einen Berg zu besteigen - Seite 122-233 - Bd. II

Ein außerordentlich vielseitiger Bordellbesuch, nicht nur voller sexueller Ausschweifungen aller Art, sondern auch mit diversen anderen Amüsements, Schlägereien, Wahrsagereien, Rollenspielen, Absurditäten, Skurilitäten und gleich mehreren Geistererscheinungen (wahrscheinlich aufgrund des Alkoholpegels). Endlich weiß ich auch, warum ich immer so müde Füße habe - ich bin ein Donnerstagskind.

Ein Donnerstagskind hat weit zu laufen.(Weissagung Zoes beim Handlesen)

Durch silberstille Sommerluft rollt Bloom, zur Kleiderpuppe verpummelt, zur Mumie vermummelt, rotierend von der Lion's Head Klippe in die purpurnen wartenden Wasser.

Wochenfazit: ...eine neue Ära dämmert herauf. Wahrlich, ich Bloom sage euch, daß sie schon jetzt nahe herbeigekommen ist. Ja, auf das Wort eines Bloom, bald schon werdet ihr einziehen in die goldene Stadt, welche da ist das neue Bloomusalem in der Nova Hibernia der Zukunft.

H.C. Andersen und der Sex

Gestern und heute lief am frühen Vormittag eine zweiteilige Dokumentation über das Leben des Dichters H.C. Andersen, besser gesagt irgendwie hauptsächlich über sein Sexleben, oder noch genauer - sein sexuelles Nichtleben. Dieses scheint man ziemlich genau rekonstruieren zu können, den Andersen schrieb Zeit seines Lebens akribisch Tagebuch, so akribisch, dass er mit Schnörkeln zwischen den Wörtern vermerkte, wenn er sich einen runtergeholt hatte. Allerdings frage ich mich, woher man weiß, dass die Schnörkel diese Bedeutung haben, denn wenn er gewollt hätte, dass man es weiß, hätte er es auch gleich hinschreiben können, ohne das Ereignis zu "verschnörkeln".

Desweiteren erfährt man von den wenigen hoffnungslosen Romanzen, in denen sich der Dichter verstrickte. Da gab es zum Beispiel eine Angebetete, welche ihn eines schönen Weihnachtsfestes sträflich vernachlässigte und sich erst am zweiten Weihnachtsfeiertag Zeit für ihn nahm, um ihm ein Stück Seife mit dem Aussehen eines Käses zu schenken. Ich denke mir dabei, dass seine Angebetete entweder einen ausgeprägten Sinn für Humor hatte oder aber ihm mit diesem Geschenk sehr subtil eine Botschaft vermitteln wollte. Eventuell lautete diese Botschaft "Wenn du dich öfters waschen und nicht mehr wie ein Käse stinken würdest, dann würde ich dich vielleicht doch heiraten." Leider hat der Dichter diese Botschaft anscheinend nicht verstanden, so dass er sich bald darauf mit einem Ballettänzer namens Scharf trösten musste (keine Ahnung, ob der Name auch so geschrieben wird). Möglicherweise hätte sich ja das Zusammenleben von Andersen, welcher der englischen Sprache nur sehr rudimentär mächtig war, und Charles Dickens, der ersteren zu sich nach England eingeladen hatte, sehr viel erfreulicher gestaltet, wenn Dickens ebenfalls die Strategie der subtilen und sprachlosen Botschaften genutzt hätte. Doch statt dem hängte er nach Andersens Abreise nur einen Zettel über dessen Waschstelle auf, in welchem es sinngemäß hieß: "H.C. Andersen wohnte fünf Wochen in diesem Zimmer. Der Familie erschien es wie eine Ewigkeit." und antwortete nie wieder auf Andersens Briefe. Nun sinniere ich gerade darüber, ob es zwischen dem Ort der Platzierung des Zettels, nämlich der Waschstelle, und dem symbolträchtigen Weihnachtsgeschenk irgendeinen verborgenen Zusammenhang gibt.

Jedenfalls sieht man an diesem Beispiel sehr schön was passiert, wenn ein bekannter Schriftsteller und Dichter zu genau Tagebuch führt. Wenn er Glück hat, gehen die Tagebücher verloren, wenn er Pech hat, werden sie detailgenau ausgewertet und mitsamt aller sexuellen und zwischenmenschlichen Katastrophen in ausführlichen Dokumentationen der Nachwelt vorgeführt.