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Tagebuch eines russischen Kriegsgefangenen

Mein Großvater machte diese Tagebuchnotizen während seiner russischen Kriegsgefangenschaft. Interessanterweise ist das die einzige Zeit seines Lebens in welcher er Tagebuch führte:

Meine Gefangenschaft.
Am 2.5.45 in Berlin am Stettiner Bahnhof gefangengenommen.
" 3.5.45 nach Übernachtung in einem Kino nach Löhme bei Werneuchen marschiert.
" 5.5.45 nach Strausberg. Unterwegs rote Rüben roh gegessen und Rhabarber vor Durst, abends Kartoffelsuppe gekocht.
" 6.5.45 nach Wriezen; dort entlaust und kahl geschoren.
" 9.5.45 nach Küstrin. Zwischenstation in ? Füße total kaputt, ebenso Schuhe.
""21.5.45 weiter nach Landsberg a.d.Warthe. Dort Entlausung. Übernachtung in Vietz.
""26.5.45 weiter nach Woldenberg/Neumark. Dort wieder Entlausung.

Bin bis 8.6. 3mal entlaust worden, habe aber niemals eine Laus bei mir feststellen können. Vorher unterwegs übernachtet in Friedeberg: 1500 Mann in einer Feldscheune, hockend und stehend, dicht an dicht, war entsetzlich.
Vom 7.-21.6. für meine Baracke im Lager Woldenberg Quarantäne angeordnet. Am 3.6. am Gottesdienst teilgenommen, sonst an Sing- und Bibelstunden. Dies durch Quarantäne erschwert. Verpflegung knapp: 3mal täglich 3/4 Liter meistens dünne Wasser-Kartoffelsuppe, Brot 3-400 Gramm und 1 Eßlöffel Zucker. Habe immer Hunger und bin sehr schlapp. Morgens und abends Appell, meist 1 1/2 - 2 Stunden stehen, strengt mich sehr an. Arbeitsdienst bis jetzt nicht oft. Ein paarmal Balken und Bretter getragen. Wetter meist schön warm. Was ist mit meiner Familie? Die Ungewißheit lastet schwer auf meiner Seele. Gott verhüte das Schlimmste! Gefangenschaft lähmt allmählich Körper und besonders Geist. Man verblödet langsam. Einseitige Ernährung (kein Gramm Fett) bringt körperlich herunter. Kameradschaft nirgends mehr zu finden. Einer gönnt dem ändern die Luft nicht. Deutschlands letzte Armee war auch danach. Führerschaft hat geschlemmt, der Landser nichts bekommen. O armes Deutschland! Warum mußte das so kommen? Am 10.6. Gottesdienst besucht. Predigt ausnehmend gut, hat mich wieder etwas aufgerichtet. Abends Boxkampf und Fußballspiel angesehen, roher Sport! Kleine Kapelle hat ganz gut gespielt. Das Schlafen eng zusammengepfercht auf den harten Pritschen ist furchtbar, besonders bei großer Hitze. Heute am 13.6. habe ich große Wäsche. Früh Brot geholt. Es gab keine Suppe, sondern sehr fragwürdigen Kaffee. Enderfolg: Hunger, und Brot reicht bis abend nicht aus. Vielleicht ist das Mittagessen dafür dicker. Ja, es war dicker! Sehr gut, viel Fleisch. Wenn's doch immer so wäre! Und dann noch Nachschlag, endlich mal satt! Aber nicht dauernd an's Essen denken. Die Kameraden haben sowieso kaum ein anderes Thema. Hunger tut weh; schlimmer aber ist der geistige Hunger, der Hunger nach Gottes Wort. Wenn ich nur mein neues Testament hier hätte. Vorgestern abend die Katechismusstunde hat mich tief beeindruckt. Gestern am 13.6. keine Bibelstunde, Wetter zu schlecht. Heute ist Kammermusikabend, leider keine Karte mehr bekommen. Vielleicht kann man draußen am Fenster etwas lauschen. Bin nun doch noch hineingekommen. Nach langer Zeit wieder mal ein musikalischer Hochgenuß! Programm: 1. Corelli, Duo für 2 Violinen mit Klavierbegleitung, 2. Rob.Schumann, "Des Abends" für Klavier (Prof.Daubitz), 3. Schumann, Sonate für Violine und Klavier a-moll op.105 4. Senig, 6 Bauernlieder für Bariton (Komponist anwesend, Sänger vom Dt.Opernhaus Berlin), 5. Brahms, Sonate für Violine und Klavier d-moll op.103, 6. Mendelssohn, "Wer hat dich du schöner Wald" (Lagerchor).
Es war sehr schön. Wehmütige Erinnerungen an mein Musizieren zu Hause. Ob mein Klavier noch dort und noch heil ist? (Anmerkung: Klavier ist bei der Befreiung von den Russen beschlagnahmt worden.)
15.6. Nichts besonderes. Wilde Parolen laufen um: Entlassung, Transport nach Rußland oder in ein anderes Lager nach Deutschland, Arbeitseinsatz usw. Gott gebe, daß der Tag der Freiheit nicht mehr fern ist! Heutige kirchl. Singestunde nicht besuchen können, da es erst kurz vorm Zapfenstreich Essen gab. Hoffentlich kann ich morgen zur Wochenschlußandacht gehen.
16.6. Nichts besonderes. Die Andacht abends war sehr schön
17.6. Sonntag. Große ärztliche Untersuchung. Bin bei den Kranken und Älteren, die hier bleiben. Andere sind in Tauglichkeitsziffern 1, 2 und 3 eingeteilt und werden per Bahn verladen. Wohin? Es heißt: zu Aufräumungsarbeiten, Instandsetzung von Brücken und Verkehrsverbindungen. Überhaupt soll das hiesige Lager bis Ende Juni geräumt sein. Demnach müßten wir ja auch noch wegkommen. Wieder eine Parole! Durch die Untersuchung bin ich leider um den Gottesdienst gekommen. War dann zur Abendandacht. Superintendent Draheim sprach über einen Text aus Jesaja: Uns kann geholfen werden, wir müssen aber umkehren, still und geduldig sein und auf Gott hoffen. Nicht, daß wir selbst unser Schicksal wenden wollten oder dagegen aufbegehren. Wir können nichts, nur der Allmächtige kann uns helfen. Haben wir nicht auch unseren Zusammenbruch selbst verschuldet? Haben wir uns nicht abgewendet von Gott in wahnwitziger Verblendung, vielleicht durch die Anfangserfolge hervorgerufen? Und haben wir nicht unsere Führung bald selbst wie Gott angebetet und war unsere Führung nicht vermessen genug, sich selbst göttliche Befugnisse anzumaßen? Ich bin der Herr Dein Gott, Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Und Gott läßt sich nicht spotten. Gott hat daher seine Hand von uns abgezogen und uns abermals ins Unglück gestürzt und diesmal gründlich. Ganz Deutschland mußte erst zerstört werden wie im 30jährigen Krieg. Ob das Volk nun Gottes Hand spürt und zu ihm zurückfindet? O Herr, schick uns doch den rechten Mann, dem es gelingt, durch predigen Deines heiligen Wortes unser Volk zu Dir als unserm lieben Vater zurückzuführen. Dann wirst Du uns auch Deine Hilfe nicht versagen und alle Wunden wieder heilen und unser Vaterland zu neuer Schönheit erblühen lassen.
18.6. Nichts besonderes. Abends zum Operetten- und Liederabend gewesen. Mit Ausnahme von einigen netten Sachen von Nicolai, Leoncavallo, Künnecke, Lehar war alles ziemlich seicht und für die große Masse der Schlagerfreunde zugeschnitten. Von der Abendandacht hätte ich bestimmt mehr gehabt.
19.6. Heute schon wieder Umzug von Baracke 14 nach Baracke 6. Abends Andacht.
20.6. Mütze fertig bestickt, Buch angefangen zu lesen. Nachts Kar­ toffeln geschält bis früh 5 Uhr. Kein Nachschlag bekommen.
21.6. Buch zu Ende gelesen, bin schon müde, gehe aber noch zur Bibel­ stunde.
22.6. Heute in der Sonne gelegen, dann nach Karte für Klavierabend an­ gestanden, dadurch Entlausung verpaßt, Morgen Klavierabend, Sonntag abend Fortsetzung von Sup.Draheims Vortrag "die Umwelt Jesu". Hoffentlich kann ich beides hören. Heute vormittag Katechismusstunde über die 3 ersten Bitten des Vaterunser vom Lagergeistlichen cand.theol. Ernst Allwang besucht. Bin augenblicklich wieder so verzweifelt. Wie wird es meinen Lieben gehen? Und wie wird sich Gretel(Anmerkung: meine Großmutter) um mich sorgen? O, lieber Gott, beende doch bald meine Gefangenschaft und führe alles zum Guten! Doch ich will nicht zweifeln, sondern fest auf Gott vertrauen. Ich weiß, daß er mich nicht verlassen wird!
23.6. Heute den ganzen Tag Kartoffeln geschält. Es gab einen Nachschlag. Abends Klavierkonzert besucht. Prof.Daubitz spielte meist unbekannte kleine Stücke. U.a. vom 4 - 14jähr.Mozart, dessen Schwester und ältesten Sohn. Ferner von Scarlatti, Rameau, Couperin, Debussy, Phil.Emanuel Bach und einigen Russen wie Liadoff, Prokoffieff usw. Als Zugabe Franz Liszt "Waldesrauschen". Die Stücke waren meist aufs Virtuose zugeschnitten, tieferen Gehalt vermißte ich leider. Trotzdem war der Abend sehr interessant und genußreich, hörte ich doch mal mein Lieblingsinstrument solo! Der benutzte Flügel hat einen schönen vollen Klang.
24.6. Sonntag. Den 9 Uhr Gottesdienst von P.Allwang und den 12 Uhr-Gottesdienst von Sup.Draheim besucht. Namentlich die Predigt von Sup.Draheim hat mich wieder tief erschüttert, so daß mir die Tränen kamen. Wäre der Krieg anders ausgelaufen, hätten wir vielleicht eine Zeit gut gelebt, aber leer, ein Leben ohne Seele. Dann wäre das Nichts gekommen, unser Volk wäre in einem fürchterlichen Zusammenbruch total versunken. So aber will uns Gott noch einmal auf den rechten Weg zurückführen, indem er uns in unser jetziges Elend stürzte. Kommt das Volk zur Besinnung, kehrt zu Gott zurück und bittet Ihn um Hilfe, wird Er uns seine Gnade nicht versagen. Der Vortrag von Sup.Draheim über die Umwelt Jesu mußte wegen des langen Appells leider wieder ausfallen. Er soll nun am Mittwoch 17 Uhr stattfinden. Hoffentlich kann ich ihn hören.
25.6. Letzte Nacht besser geschlafen als sonst; heute Regentag. Wenn ich nur mal etwas zu lesen hätte. Wetter hat sich wieder gebessert. Habe genäht, gestopft, Beutel aus Taschentuch genäht usw. Zum Clubhaus gegangen, Schwalben beobachtet. Dabei sprach mich Prof.Daubitz an und unterhielt sich mit mir über den Spreewald. Habe ihm dabei gleich eine Karte für den Schubertabend am 26.6. abgeluchst.
26.6. Heute ab Mittag 12 Uhr Kartoffeln geschält. Muß abends Essen holen. Hoffentlich ist der Appell zeitig zu Ende, damit ich noch recht­ zeitig zum Schubertabend komme, zumal meine Gruppe heute mit Nachschlag dran ist. Vielleicht bekomme ich mittags schon meinen Nachschlag. Heute vormittag leichtsinnig gewesen: das ganze Brot und noch die Hälfte des aufgesparten Reservebrotes gegessen. Hatte mächtigen Hunger und muß ab morgen wieder mehr einteilen. Richtig satt wird man ja nie. Für Kartoffel schälen gab's 15 ganz kleine Pellkartoffeln. Den Nachschlag gab's erst abends, es war schön dickes Essen. War mal richtig satt. Der Schubertabend war sehr schön. Allerdings hatte sich der Sänger (Opernsänger Krusenbaum vom Deutschen Opernhaus Berlin) arg verhauen. Er sang u.a. "Du bist die Ruh", "Am Meer", "Die Post", "Wohin", "Der Neugierige", "Ungeduld", "Der Wanderer", "Aufenthalt". Der Klaviervirtuose Meyer-Marko spielte spielte die Impromptus As-dur und Es-dur sehr brillant, aber etwas seelenlos. Der Lagerchor unter Daubitz sang das "Sanctus" himmlisch schön, sowie zwei mir noch unbekannte Chöre von Schubert. Zum Schluß ein Volkslied von Edgar Wünsch, Satz von Prof.Daubitz;auch sehr schön. Alles in allem wieder ein musikal. Genuß.
27.6. Heute früh beim Appell gab's gleich ein Gewitter, danach tüchtig Regen bis gegen 11 Uhr. Unsere Kompanie soll heute ärztlich untersucht werden, aber daraus ist nichts geworden. Nachmittags Vortrag von Sup. Draheim gehört. War sehr interessant und lehrreich. Nachher setzte wieder starker Regen ein, so daß der Appell ausfallen mußte.
28.6. Heute sehr kühl und stürmisch; nach dem Appell wieder Regen. Von 10 bis 13 Uhr geschlafen. Hoffentlich bessert sich das Wetter bis zum Abend zur Bibelstunde. Das Wetter wurde aber immer schlechter, so daß Abendappell und Bibelstunde ausfallen mußten.
29.6. Heute nichts Besonderes. Nachmittags Fußballspiel zugesehen, Nachts sollen wir Kartoffeln schälen. Brief an Gretel geschrieben, um Entlassenen mitzugeben; ist aber noch nichts draus geworden.
30.6. Von gestern abend 1/2 10 bis heute früh 5 Uhr Kartoffeln geschält. Heute gab's auf 100 Mann 22 statt sonst 19 oder 20 Brote. Heute hat mein lieber W. Geburtstag (Anmerkung: Bruder meines Vaters). Gott gebe, daß er noch lebt und gesund ist und bleibt. Wann werde ich ihn wiedersehen? Meine Gedanken wandern nach Hause und im Geist gebe ich meinem Liebling einen herzhaften Geburtstagskuß. Nachmittag war die ganze Kompanie zum Varietê. Manches war ganz schön, manches albern und blöde. Habe leider meinen Kopierstift verloren, hier ein schmerzlicher Verlust. hat sich zum Glück wieder angefunden. Durch das späte Essen leider zur Wochenschlußandacht nicht mehr zurechtgekommen.
1.7.Sonntag. Heute im Gottesdienst Pfr. Allwang; Kantor Homann hat die Choräle am Flügel begleitet. Schöne Vorspiele. Predigt gut gefallen, über Jeremia, daß wir durch Gottes Güte nicht garaus sind. Vergleich, wie Israel von Gott abgefallen und dafür in alle Welt zerstreut und in Gefangenschaft geführt wurde, so auch das deutsche Volk. Es ist aber gut, daß Gott unser Volk noch straft; er wird ihm auch seine Gnade wieder zuwenden. Das Volk, das Gott gar nicht mehr straft, nicht beachtet, zu dem er nicht spricht, ist früher oder später endgültig verloren. Gott ist aber nicht nur ein zürnender, sondern auch ein gütiger Gott.
Den 2.Gottesdienst Sup.Draheim auch besucht. Seine Predigt hat mich wieder sehr erschüttert. Sprach über Petri Fischzug. Vieles, was er sagte, traf auf mich besonders zu und war mir aus der Seele gesprochen. Wenn mich Gott glücklich zu meinen Lieben heimkehren läßt, so will ich fortan ein anderes Leben führen und mit meiner Familie nach Gottes Wort leben und die Kinder im christlichen Glauben erziehen. Dazu bitte ich den Herrn und Heiland um seine Hilfe u. seinen Segen.
2.7. Bei schönem Wetter soll nachmittags eine Missionsstunde sein, in der ein Missionar über seine Tätigkeit in Ostafrika sprechen wird. Hoffentlich kommt das Essen zeitig, damit ich dort auch hingehen kann. Habe die Missionsstunde besucht. Der Vortrag des Missionars, selbst Sohn eines Missionars und in Ostafrika geboren, von Engländern interniert und später ausgetauscht, war sehr interessant. Vorher las der Gemeinschaftsleiter aus der Apostelgeschichte. Das Schlußgebet - ergreifend wie immer - sprach Sup.Draheim, der mir, je öfter ich ihn höre, immer lieber wird und besser gefällt. Er spricht so lebendig u. so zu Herzen gehend, während cand.Allwang noch zu schulmäßig und suchend, dogmatisch und etwas trocken spricht.
Trotzdem sind seine Predigten ebenfalls von tiefen Gedanken erfüllt. Draheim höre ich am liebsten. War noch zur Abendandacht von Allwang, der über die Halbjahreslosung "Lasset uns aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens“ sprach. Ein schöner Sonntag, der mir viel gegeben hat, mein Herz ruhig im Gottvertrauen gemacht hat und für den ich Gott herzlich danke.
3.7. Heute vormittag zur Entlausung, die an sich nicht nötig wäre, da ich keine Läuse habe. Aber das damit verbundene Duschen ist sehr angenehm. Zum heutigen Konzertabend leider keine Karte mehr bekommen. Hoffentlich zu morgen, beim Kirchenmusikabend. Habe draußen am Fenster etwas gelauscht. Auch die Beethoven-Sonate E-Dur op.14 wurde gespielt. Habe eine Karte zur geistlichen Abendmusik bekommen und freue mich schon. Hoffentlich kommt nichts dazwischen. Da Baracken wegen erwarteter Kommission, die nicht kam, gesperrt waren, lange spazieren gegangen und mit Stabsfeldwebel Georg Siegmann, einem gläubigen Christen, angenehm unterhalten. Mittags Essenholer gewesen. Die geistliche Abendmusik war herrlich, Zwischendurch Lesungen aus der Heiligen Schrift; alles in Form einer Andacht. Es war für mich wirklich eine große Erbauung, wofür ich Gott dankbar bin. Wenn ich nicht die Gottesdienste, Bibelstunden und guten Konzerte hätte, würde ich hier seelisch zu Grunde gehen.
4.7. Ziemlich kaltes Wetter. Sollen heute wieder Kartoffeln schälen; aber am Tage. Heute mittag war in der Kartoffelsuppe statt Fleisch Hering, allerdings sehr wenig. Suppe sehr dünn; hat mir aber gut geschmeckt. Wenn es nur mehr geben würde. Von 12 bis 18 Uhr Kartoffeln geschält. Spät abends 18 ganz kleine Pellkartoffeln bekommen.
5.7. Heute Regentag. Früh beim Appell total naß geworden. Habe besonders durch das zerrissene Schuhzeug zu leiden. Heute mittag wieder Fisch; soll nicht Hering sondern Weißfisch sein. Der ölige Geschmack soll von Sonnenblumenöl sein. Essen war schön dick, konnte etwas Brot zur Reserve aufsparen. Abends Nachschlag bekommen und satt geworden.
6.7. Heute wieder Regentag. Wenn ich nur was zu lesen hätte. Kameraden ungefällig, borgen ihre "organisierten" Bücher nicht. Wollen am liebsten Brot oder Zucker dafür haben. Kann ich natürlich nicht geben. Abends zur katholischen Abendandacht gewesen. Der musikalische Teil ebenso wie bei der evangelischen. Die Ansprache des katholischen Geistlichen war nicht hervorragend. Unsere beiden evangelischen Geistlichen sind ihm darin haushoch überlegen.
7.7. Nichts besonderes. Seit 2 Tagen ist das Essen sehr dünn, so daß man überhaupt nicht mehr satt wird. Allerdings gibt es früh statt Kaffee wieder Suppe; wenn sie nur mittags und abends dicker wäre.
8.7. Sonntag, erst um 7 Uhr Wecken. Heute wieder beide Gottesdienste besucht. Der 2. mit Sup.Draheim hat mich wieder besonders ergriffen: 12 Jahre lang hatten wir keine Zeit, über unsere Seligkeit nachzudenken. Jetzt hat uns Gott mit der Gefangenschaft Zeit genug dazu gegeben. Mit diesem furchtbaren Kriege hat uns Gott laut und vernehmlich gerufen. Möchte doch das ganze Volk ihn hören und zu ihm zurückfinden! Die Gottesdienste hier sind immer sehr stark besucht; wird es später in der Heimat so bleiben? Gott schenke uns baldige Heimkehr. Mein ferneres Leben will ich ganz nach Gottes Wort und Gebot führen. Dazu verhelfe mir mein Herr und Heiland!
Nachmittags Musik alter Meister gehört. Vortrag mit Professor Daubitz und anderen Künstlern war sehr schön. Daubitz hat zwischendurch Fragen an die Hörer gestellt, was bei dem betreffenden Stück besonders auffällt oder gefällt. War sehr interessant. Habe meine Adresse einem Forster gegeben, der bald entlassen zu werden hofft. Er will eine Karte an Gretel schreiben, daß ich noch gesund bin.
9.7. Habe meine ganze Brotreserve aufgegessen. Durch die fettarme und wenige Kost hat man dauernd Hunger. Heute Sonnenfinsternis. Leider nicht beobachten können, da kein farbiges Glas. Abends zum Liederabend, war sehr schön. U.a. Beethoven "Adelaide", Mozart, Schubert, Schumann: "Im wunderschönen Monat Mai", "Aus meinen Tränen sprießen", "Der Nußbaum". Mussorgski's Lied für sein verstorbenes Kind sehr interessant. Ebenso einige Stücke von Paderewski für Violine und Klavier. Ferner "Willst du dein Herz mir schenken"; soll nicht von Bach sondern von einem Italiener sein. Der Chor sang "Heilige Nacht, o gieße du" (Beethoven)und Chor der Zigeuner "Die Sonn erwacht" aus Preziosa von Weber.
10.7. Früh wieder Wassersuppe geholt. Wann werde ich mich mal richtig satt essen können? Heute wieder mal in der Sauna gewesen zur Ent­ lausung. Will heute einweichen und morgen waschen: Hemd und Unterhose.
11.7. Heute vormittag gewaschen, schön weiß geworden. Bis zum Esssn nach 15 Uhr alles trocken. Wetter schön warm, ganzen Tag ohne Hemd in der Sonne. Um 17 Uhr zur Bibelstunde, die mich sehr ergriffen hat. Der Gemeinschaftsleiter Allwang und vor allem Draheim haben ganz wundervoll gesprochen; Draheim hat sich selbst übertroffen. Erinnerte mich heute an Luther, habe wieder viel Trost gefunden. Unsere Gebete für unsere Lieben mögen in Gottes Herz dringen, und die Gebete unserer Lieben für uns ebenfalls; sie mögen so eine Brücke zwischen uns bilden und unsere Seelen vereinigen.
12.7. Sehr heiß! Ganzen Tag in der Sonne! Strümpfe gestopft. Sonst nichts besonderes.
13.7. Wieder ganzen Tag in der Sonne gelegen und Wollgarn von der Decke abgemacht und aufgeräufelt. Habe nun wieder was zum Stopfen und Nähen. Sonst keine besonderen Ereignisse. Doch, das Essen wieder dicker.
14.7. Vormittag Kartoffeln geschält. Nachmittag Futter aus dem Mantelärmel getrennt. Will daraus Badehose machen. Zwischendurch Fußball zugesehen. Kamerad Walter Beug aus Berlin, mit dem ich angefreundet, will mich in Burg mal besuchen. Wollen hoffen, daß es bald mal geschehen kann. Richard Petermann, der Dritte in unserem Kleeblatt, freut sich schon wieder zu morgen früh auf seinen "Mohnkuchen", so nennt er unser Kleiebrot mit Zucker bestreut. Schmeckt übrigens nicht schlecht; allerdings nur frisch. Gute Nacht, liebes Frauchen!
15.7. Sonntag! Herrlicher Sonnenschein! Die Lerchen jubilieren; sie sollen meinem lieben Gretel einen herzlichen Morgengruß singen! Die beiden Gottesdienste waren wieder sehr erhebend für mich. Im 10 Uhr-Gottesdienst spielten 2 Kameraden das 1.Präludium aus Bachs "Wohltemperiertem Klavier" mit der Violinstimme von Gounod und das "Ave Maria" von Schubert. Im 12 Uhr-Gottesdienst auf dem Appellplatz sprach Sup. Draheim (Dirschau) wieder besonders zu Herzen gehend. Wie ein 2. Martin Luther stand er vor uns. Gott schenke unserem Volk mehr solche Prediger, die im Land umherziehen müßten, um das Volk zu Gott zurückzurufen und wachzurütteln. Mehr noch, es müßte ein Mann im Volk erstehen wie ein Prophet oder wie Luther, dem es gelingen müßte, unser Volk wieder zu Gottes Volk zu machen und vorher zur Buße zu rufen. Wir mußten ja von Gott verstoßen und geschlagen werden, da Volk und Führung von Gott abgefallen waren, und auch die Kirche zum Teil versagte. Aber ich spüre es, daß sich jetzt auch in der Kirche neue Kräfte rühren werden. Ich selbst bin so ruhig und froh geworden, daß ich zu Gott und meinem Heiland zurückgefunden habe und bitte ihn täglich, er möge mir meinen früheren Abfall von ihm und meine Sünden vergeben.
Heute an meinem aufgesparten Brot und Zucker richtig satt gegessen. Nun weiß man wenigstens wieder, wie es ist, wenn man richtig satt ist.
16.7. Heute wieder mal entlaust und geduscht. Durch das viele Entlausen gehen nur die Sachen kaputt. Abends zum Grieg-Konzert. Es gab u.a. "Tempo di Minuetto" für Violine und Klavier, "Landerkennung", "Letzter Frühling", "Ich liebe dich", "An den Frühling", "Erotik", "Ases Tod", "Anitras Tanz", "Solveigs Lied", "Hochzeitstag auf Troldhaugen" und "In der Halle des Bergkönigs". Es war sehr schön. Abendessen war sehr dick.

(Tagebuchnotizen vom 17.7. bis 26.7. verloren gegangen.)

26.7.(Fortsetzung) Um 11 Uhr die Oder bei Fiddichow überschritten. Gott sei gedankt, daß uns der Pole nichts mehr anhaben kann. Ankunft in Schwedt 19 Uhr. Dort Transporte zusammengestellt, immer 21 Mann. Mußte Transport nach Berlin nehmen. Nach Cottbus kamen nicht soviel zusammen. Russische Begleitung von Schwedt an fortgefallen.
27.7. Abmarsch 5 Uhr nach Angermünde. Landschaftlich sehr schön, immer bergig, 20 Kilometer. Ankunft dort gegen 13 Uhr. In Angermünde mußte jeder eine Fahrkarte kaufen, 2,90 RM. Mir hat eine Frau eine gekauft, da ich keinen Pfennig Geld hatte. Abfahrt auf dem Dach eines Schnellzug-Wagens um 16,30 Uhr, Ankunft in Berlin um 22,15 Uhr. Fahrt über Eberswalde landschaftlich sehr schön. In Berlin im Stettiner Bahnhof übernachtet.
28.7. Vom Rosenthaler Platz mit der U-Bahn zum Görlitzer Bahnhof ge­ fahren. Dann mit der Straßenbahn nach Schöneweide und dort um 11 Uhr mit Güterzug im leeren Kohlenwaggon bis Lübbenau. Im Kohlenwagen übernachtet und um 5,15 Uhr zu Fuß nach Burg, wo ich um 10 Uhr ganz erschöpft eintraf. Das Wiedersehen mit Gretel und den Kindern war erschütternd. Gretel hat mich erst nicht erkannt, so heruntergekommen sah ich aus. Nun danke ich dem allmächtigen Gott, daß er mich durch seine Gnade und Güte wieder mit meinen Lieben zusammengeführt hat, und vor allem, daß ich sie gesund angetroffen habe.


Dies ist das Soldbuch meines Großvaters. Die schräge rote Notiz ist in Russisch.

Soldbuch meines Großvaters
g a g a - Mo, 01:25

Bedrückend. Rührend. Wie gut es uns allen doch geht.
Dein Großvater wird das irgendwie spüren, dass du seine Notizen so ehrst.

Namesi (Gast) - Mo, 23:17

Nee, wird er nicht. Auch wenn du es gut gemeint hast, gaga.

Man weiß

es nicht. Ich sehe aus den Briefen, die ich gelesen habe, daß er diese Notizen auch seiner Schwester zu lesen gegeben hat und er hat sie extra säuberlich auf der Schreibmaschine abgetippt, so daß ich mal davon ausgehe, daß er zumindest damit einverstanden wäre, daß andere sie lesen.

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