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Das vergessene Poesiealbum

Mittwoch, 7. September 2016

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Es gibt Seelen, die ein eigenes, schweres Schicksal haben, das ihnen auferlegt, nicht nur das eigene Glück und dessen Erfüllung zu suchen. Seelen, so weit und tief, daß Für-sich-Gefühle sie nicht ausfüllen können: Sie müssen schenken und geben in währendem Erfühlen und Verlieren. Das sind Seelen, die nicht dem Körperträger allein angehören, denn eine einzige persönliche, menschliche welt wäre für sie zu eng und zu klein. Sie gehören allen und allem. Nichts ist ihnen fremd und gleichgültig, sie sind die Lagerstätte für jegliches Empfinden, für jegliches Leid. Gedanken, hoffnungen, Wünsche durchirren wie zündende Funken suchend das Weltall - in solchen Seelen lassen sie sich nieder.
(aus "Harem - Erinnerungen der Prinzessin Djavidan Hanum, frühere Gemahlin des Khediven von Ägypten")

Sonntag, 4. September 2016

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Es gab alle möglichen Arten von Festen, — auch naive, blü­hende Tulpenfeste. Die Farbwirkung jeder einzelnen Tulpe wurde noch durch eine leuchtende Lampe verstärkt. Der Sammelglanz dieser Blumenbeete erfreute den Sultan und seine Frauen und ward bestimmend für die Züchtung der Tulpen, deren türkische Exemplare alle ändern Landes­schwestern in den Schatten stellten. Als ein Niederländer sie in sein Land verpflanzte, bekam die Gattung einen vom Tur­ban hergeleiteten Namen.
Neue Feste gaben die Möglichkeit zu neuen Würden, und unter dem Sultan Achmed III. gab es einen eigenen »Blu­menmeister«, Schüküfedschibaschi, der quasi die Oberherr­schaft über alle Blumen und Blumenbestimmungen hatte. Ihm wurde ein kunstvoll gezeichnetes Diplom ausgestellt, dessen Ende in blumenreicher Sprache zu folgenden Blütenpflichten ermahnte: »Daß alle Blumenerzeuger den Vorzei­ger als sultanlich beglaubigtes Oberhaupt jeglicher Blumen anerkennen mögen. Sie müssen seinem bestimmenden Wort das geöffnete Auge der Narzisse entgegenbringen, das duft­hörige Ohr der Rose. Die Zehnzüngigkeit der Lilie dürfen sie ihm gegenüber nicht in Anwendung bringen. Auch müs­sen sie darauf achten, daß die unschicklichen Reden der ra­genden Granatapfelpflanzen nicht ihre Zunge beschwere, sondern sie mögen mit geschlossenem Munde, der Rosen­knospe gleich, seine Befehle anhören und befolgen und nicht wie die frühzeitig blauende Hyazinthe zur Unzeit sprechen. Dem Veilchen gleich sollen sie sich bescheiden und demütig neigen und sich seinen Anordnungen nicht widerspenstig erweisen.«
Unter der Herrschaft Achmeds III. entsteht eine Blumen­epoche, die sogar auf Teppiche übergreift und sie mit hoch­gestickten Rosen bestreut, deren Tau Diamanten bilden. Bei prunkvollen Empfängen verlieren sie nichts von ihrer Fri­sche, wenn rotbestiefelte großherrliche Füße auf sie treten. Blumen und Stickereien lenken dieses Sultanat in friedliche, beschauliche Bahnen. Von mannigfaltigen Singvögeln um­zwitschert, sitzt der Sultan in frauenumgebener, häuslicher Behaglichkeit, verwöhnt und geliebt, und seine Hand zieht gemächlich Faden um Faden in bunter Fülle durch Brokate und Damaste, bedeckt sie mit farbigem Blumenflor: Der Sultan stickt — und der Großwesir regiert. Aber Herrscher können nicht einmal ungestraft sticken — diese traumhafte Beschäftigung kann das gewohnte Würgen und Töten nicht ersetzen. Aus diesem fadenlangen Frieden erhebt sich der Aufruhr, den Ruhe- und Blumenliebenden weht der Sturm der Empörung von seinem Thron, und es ist kein dankbarer Blütenschauer, dem er weichen muß. Die bösartige Nach­folge Achmeds III. zerstört alles, was ein Mann geschaffen hatte, der für Frauen, Blumen, Feste und stickende Behag­lichkeit soviel Verständnis besaß. Die langen Reihen heller Kioske, die, von Blütenbeeten umringt, an den Ufern des Bosporus Aufenthaltsorte zärtlichen Glückes waren, fallen der Zerstörung anheim. Die Verachtung vernichtet auch die Stickerei und ihr Gewerbe - von ihr geht der Haß auf die Frauen über.

(aus "Harem - Erinnerungen der Prinzessin Djavidan Hanum, frühere Gemahlin des Khediven von Ägypten")

Der stickende Sultan gefällt mir, war aber leider nur eine Eintagsfliege und hat sich unter Sultanen nicht durchgesetzt. Ansonsten hätten wir heute wohl eine völlig andere islamische Welt.

Mittwoch, 31. August 2016

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Drollig, sinnierte er, daß Menschen so oft berühmt werden durch irgend etwas, wofür sie niemals eingetreten sind. Die Kritik warf seinem Werk Mangel an Geistigkeit - ihm, dessen Werk von Philosophie und Menschenliebe durchdrungen war. Er war immer zwei Motiven gefolgt: der sichtbaren Fabel und der dahinter verborgen wirkenden Idee, die nur wenige wahrgenommen hatten. In Korea kam eines Tages ein Beamter zu ihm und bat ihn, sich auf dem Platz vor dem Hotel zu zeigen, wo sich die gesamte Einwohnerschaft versammelt hatte, ihn zu sehen. Er fühlte sich sehr geschmeichelt bei dem Gedanken , daß sein Ruhm bis in das ferne Korea gedrungen sei. Aber als er die Plattform bestiegen hatte, die für ihn errichtet worden war, fragte ihn der Beamte, ob er die Liebenswürdigkeit hätte, allen sichtbar sein künstliches Gebiß herauszunehmen. Da stand er nun, um eine halbe Stunde lang unter dem stürmischen Applaus der Menge sein Gebiß herauszunehmen und wieder einzusetzen.
(aus: "Zur See und im Sattel. Jack London - ein Leben wie ein Roman" von Irving Stone)

Sonntag, 28. August 2016

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"Unter der Magie der tausend Worte Charmain Kittredges, die täglich auf ihn eindrangen, beginnt es aus ihm zu reden wie eine fünftrangige Marie Corelli. Behext von Charmains angelesenem Stil, antwortet er mit ihrem eigenen purpurrot blühenden Schwulst aus dem neunzehnten Jahrhundert, wogegen er von seiner ersten Zeile an revolutionär gekämpft hatte; in einem überschwenglich-schaumigen Stil, von dem er nie wieder ganz genesen sollte und an dem manches seiner Bücher krankt. Jack, im "Briefwechsel zwischen Kempton und Wace" (Anmerk.: in Zusammenarbeit mit Anna Strunsky) der Widerpart sentimentaler und poetischer Liebe und Verfechter der Theorie, Liebe sei nichts als ein biologischer Zwang, wird mit einem Male "Gottes wahnsinnig Liebender, der an einem Kusse stirbt". Hätte ihm Anna Strunsky über die Schultern blicken und sehen können, wie er seine Stellung so völlig gewechselt hatte, sie hätte sich vielleicht die Ironie nicht versagen können und mit dem Finger auf diesen seinen Satz gewiesen: "Ohne eine erotische Literatur könnte der Mensch unmöglich so lieben, wie er es tut."
(aus "Zur See und im Sattel. Jack London - ein Leben wie ein Roman" von Irving Stone)

Freitag, 26. Februar 2016

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Denn die Leere ist wohl der wirkungsvollste Ort für eine Neuordnung der kognitiven Strukturen, weil man dort am wenigsten von den Strukturen umgeben ist, die einst den festumschriebenen Sinn des eigenen Lebens eingrenzten.

(aus "Alles klar bei Sonnenuntergang" von Carol Osborn)

Donnerstag, 25. Dezember 2014

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen

Ein Vater vermachte seinen drei Söhnen seine 17 Kamele und verfügte, daß der Älteste die Hälfte, der Mittlere ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel der Herde erhalten sollte.
Als ein Sufi seines Weges geritten kam, fand er die Söhne ratlos und deprimiert. Hilfsbereit stieg er vom Kamel, stellte es zu den anderen und begann, sie aufzuteilen: der Älteste bekam die Hälfte (9), der Mittlere ein Drittel (6), der Jüngste sein Neuntel (2). Dann stieg er auf sein Kamel, das als einziges übriggeblieben war, und ritt davon.

Sonntag, 14. Dezember 2014

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Er hatte es wirklich zu einer gewissen Weisheit gebracht - wenn man es so nennen wollte -, wußte freilich, daß die meisten alternden Menschen keineswegs weise waren, sondern nur einen dünnen Mantel aus billigen Weisheiten als Schutz vor der Welt trugen. Die Weisheit, die junge Leute vom Alter erwarteten, war in diesem Leben sowieso nicht zu erlangen, egal, wieviele Jahre man lebte.
(aus "Schnee, der auf Zedern fällt" von David Guterson)

Freitag, 28. März 2014

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Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.

          (Karl Valentin)

Mittwoch, 5. März 2014

Das feuilletonistische Zeitalter

Wir müssen bekennen, daß wir außerstande sind, eine eindeutige Definition jener Erzeugnisse zu geben, nach welchen wir jene Zeit benennen, den «Feuilletons» nämlich. Wie es scheint, wurden sie, als ein besonders beliebter Teil im Stoff der Tagespresse, zu Millionen erzeugt bildeten die Hauptnahrung der bildungsbedürftigen Leser; berichteten oder vielmehr «plauderten» über tausenderlei Gegenstände des Wissens, und, wie es scheint, machten die klügeren dieser Feuilletonisten sich oft über ihre eigene Arbeit lustig, wenigstens gesteht Ziegenhalß, auf zahlreiche solche Arbeiten gestoßen zu sein, welche er, da sie sonst vollkommen unverständlich wären, geneigt ist, als Selbstpersiflage ihrer Urheber zu deuten. Wohl möglich, daß in diesen industriemäßig erzeugten Artikeln eine Menge von Ironie und Selbstironie aufgebracht wurde, zu deren Verständnis der Schlüssel erst wieder gefunden werden müßte...
...Wie gesagt, war vermutlich dieser ganzen Betriebsamkeit ein gutes Teil Ironie beigemischt, vielleicht war es sogar eine verzweifelte Ironie, wir können uns da nur sehr schwer hineindenken; von der großen Menge aber, welche damals auffallend leselustig gewesen zu sein scheint, sind alle diese grotesken Dinge ohne Zweifel mit gutgläubigen Ernst hingenommen worden. Wechselte ein berühmtes Gemälde den Besitzer, wurde eine wertvolle Handschrift versteigert, brannte ein altes Schloß ab, fand sich der Träger eines altadligen Namens in einen Skandal verwickelt, so erfuhren die Leser in vielen tausend Feuilletons nicht etwa nur diese Tatsachen, sondern bekamen schon am selben oder doch am nächsten Tage auch noch eine Menge von anekdotischem, historischem, psychologischem, erotischem und anderem Material das jeweilige Stichwort, über jedes Tagesereignis ergoß sich eine Flut von eifrigem Geschreibe, und die Beibringung, Sichtung und Formulierung all dieser Mitteilungen trug durchaus den Stempel der rasch und verantwortungslos hergestellten Massenware...
... Es war, wie in jenem wunderbaren chinesischen Märchen, die «Musik des Untergangs» erklungen‚ wie ein langdröhnender Orgelbaß schwang sie jahrzehntelang aus, rann als Korruption in die Schulen, die Zeitschriften, die Akademien, rann als Schwermut und Geisteskrankheit in die meisten der noch ernst zu nehmenden Künstler und Zeitkritiker, tobte sich als wilde dilettantische Überproduktion in allen Künsten aus.
(aus "Das Glasperlenspiel" von Hermann Hesse)


Ich frage mich, was Herr Hesse wohl geschrieben hätte, wenn es damals schon das Internet, die Blogs und die virtuellen Sozialen Netzwerke gegeben hätte.

Sonntag, 24. November 2013

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Die Journalisten Charlotte und Denis Plimmer erzählen aus diesen Tagen des Zurechtfindens, daß ein Besucher (des Vatikans), der sich im Labyrinth von Fluren und Höfen verirrt hatte, in ein großes und prächtiges Zimmer mit Spiegelwänden geriet. Sicher hatte ein Außenstehender hier nichts zu suchen, aber als er die reichverzierte Tür hinter sich zugezogen hatte, konnte der Unglückliche den Ausgang nicht mehr finden. Wohin er sich auch wandte, blickte ihn sein verängstigtes Spiegelbild an, bis er hilflos und geschlagen nur noch in den Spiegel schaute. Da stand er nun in schrecklicher Erwartung, als einer der großen Spiegel auf ihn zuschwang, und ins Zimmer trat der Papst. Johannes, der die Lage gleich durchschaute, legte spitzbübisch einen Finger auf die Lippen und flüsterte: "Pst! Ich habe mich auch verirrt."
(aus "Ich möchte Johannes heißen - Das Leben eines großen Papstes" von Lawrence Elliott)