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Dienstag, 8. August 2006

Mein Elternhaus - Wohnungen und Bewohner 2

Ganz oben unter dem Dach wohnte, wie bereits erwähnt, mein Spielfreund M. mit seinen Eltern und ich beneidete ihn stets um das große Kinderzimmer, das er sein Eigen nannte. Es hatte sogar Teppichboden, eine Couch und einen Fernseher. Die Wohnung selbst war zwar viel kleiner, unsere dagegen doppelt so groß, aber die hundert Quadratmeter erstreckten sich bei uns hauptsächlich in einer riesigen Diele und einem gigantischen Durchgangszimmer und natürlich brauchte mein Vater jede Menge Platz, genauer gesagt, ein großes und ein kleines Zimmer, für seinen ganzen Krempel, den er aufhob. Für die Kinder blieben da nur noch eine Kammer und der Wintergarten. Als mein Bruder, der fünfzehn Jahre älter ist als ich, ungefähr mit 21 Jahren auszog, konnte ich endlich aus dem Wintergarten, der von allen Seiten durch Glas einsehbar war uns außerdem nicht beheizt, da von der Wärme des Kachelofens im riesigen Wohnzimmer, auch wenn man die Tür offen stehen ließ, nicht mehr viel dort hinein kam, in ein richtiges Zimmer ziehen. Ich habe meine ganze Kindheit hindurch kein vernünftiges Bett besessen, bis auf das erste Gitterbettchen. Als ich dafür zu groß wurde, schlief ich auf einem uralten und brettharten Chaiselonge mit einem genauso hartem, und mir als Kind besonders hoch erscheinendem halbrundem Höcker als Kopfteil. Dass ich mir dadurch nicht noch größere Verrenkungen und Verkrümmungen geholt habe, ist ein Wunder, meine Mutter ist der Meinung, dass die leichte Wirbelsäulenverkrümmung vererbt ist, ich bin mir da nicht so sicher. Später übernahm ich das Klappbett von meinem Bruder. Blöd nur, dass es so durchgelegen war, dass ich mit dem A..... bis auf dem Boden hing. Ich habe mir dann heimlich aus unserer Rumpelkammer ein großes Brett, die mein Vater ebenfalls in Massen aufhob, mitgenommen und unter die Matratze gelegt. So habe ich ganz gut die nächsten Jahre in der "Waschschüssel", wie mein erster Freund es nannte, überstanden.

Das Seltsame ist, dass ich das eigentlich selbst jetzt noch alles ganz normal finde, weil ich es nicht anders kannte und irgendwie wäre ich damals nie auf die Idee gekommen, mich vor meine Eltern hinzustellen und konsequent ein vernünftiges Bett zu fordern, obwohl sie es sich durchaus hätten leisten können. Es lag vielleicht daran, dass ich mich damals noch nicht um solche Dinge wie Betten kümmerte, aber wenn ich mich in meine Kindheit zurückversetze, dann fällt mir auf, dass ich eigentlich nie irgendwas, sei es Spielzeug, Süßigkeiten oder was man als Kind sonst so mag, vehement gefordert habe. Meistens war ich schon zufrieden, wenn man mich einfach in Ruhe ließ und die Idee, mir etwas zu kaufen, gingen in der Regel von meiner Mutter aus, die mir ab und zu gerne mit Kleinigkeiten eine Freude machte und mir dabei aber auch regelrecht Dinge aufzwang, die sie mir unbedingt kaufen wollte. Größere Ausgaben mußten jedoch immer über meinen Vater gehen und meine Mutter übernahm dann meist die Aufgabe, die ich selbst ablehnte, ihn monatelang zu beknien, damit er das Geld herausrückte. Überhaupt graut es mir im Nachhinein vor meiner krankhaften Bescheidenheit in der Kindheit, krankhaft deshalb, weil ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass sowas für ein Kind normal ist. Schlagartig bewußt ist mir dies aber erst vor einigen Jahren geworden, als ich bereits erwachsen und zu Besuch bei meinen Eltern war, durch eine völlig belanglose Begebenheit. Es gab zum Mittagessen Schnitzel, die ich besonders gerne esse, und wie ich es seit Kleinauf kannte, erhielt mein Vater auf seines noch ein gebratenes Ei obenauf. Ich hatte auf mein Schnitzel niemals ein Ei bekommen und heute sagte ich es: "Warum bekommt Papa eigentlich immer ein Ei und ich nicht?" Meine Mutter sah mich an und antwortete: "Ach, du willst auch ein Ei? Warum hast du denn nie etwas gesagt?" Und da stand ich wie vom Donner gerührt. Ja, wieso nicht? Wieso hatte ich all die Jahre nie etwas gesagt, obwohl ich doch genau weiß, dass ich auch immer ein Ei wollte?
Der Anlass mag unwichtig und nebensächlich erscheinen, aber zum ersten Mal kam mir der Gedanke, vielleicht nicht genug zu mir selbst und meinen Wünschen zu stehen, sie bisher gar nicht erst geäußert, ja vielleicht nicht einmal bewußt eingestanden, sondern unterdrückt zu haben, nur um eventuellen Ärger zu vermeiden und nicht als so maßlos zu gelten wie mein Vater. Seitdem versuche ich bewußt, mir etwas wert zu sein und nicht an mir zu sparen. Trotzdem ertappe ich mich auch jetzt noch oft bei den alten, eingeschliffenen Mustern, zum Beispiel, wenn ich irgendeinen schäbigen, abgegriffenen Gegenstand in die Hände kriege, den ich schon seit Jahren benutze und bei mir denke "Der geht doch noch.". Dann erwacht jetzt oft mein distanzierter Ich-Beobachter und greift sofort ein: "Halt, Moment mal! Geht doch noch? Gut genug für dich? Warum nicht gleich - schlecht genug für dich?" Auch bei meiner Mutter erwacht er häufig, um genau dieses Muster zu beobachten, denn sie gibt sich meist mit so wenig zufrieden, dass man sie manchmal geradezu schütteln möchte. Erst letztens, als mein Cousin das Schlafzimmer meiner Eltern renovierte, habe ich sie gefragt, warum sie sich nicht gleich einen neuen Fußbodenbelag kauft und von meinem Cousin verlegen läßt. An Geld mangelt es nicht und das alte Linoleum ist so furchtbar, dass man es nicht beschreiben kann. Es ist dieser typische DDR-Plattenbaubelag, der obligatorisch in diesen Wohnungen ausgelegt wurde, ein psychedelisches Muster in Kotzgrün, schon so abgewetzt, dass er teilweise mit der alten Parkettimitation aus meiner Kindheit ausgebessert wurde. "Ach, der geht doch noch." sagt meine Mutter.

Immerhin hatte ich dafür in meinem Zimmer einen Luxus, den sonst keiner besaß, nicht einmal M., nämlich ein eigenes Waschbecken mit kaltem Wasser. Dieses hatte sich mein Bruder, der Klempner lernte, eigenhändig eingebaut, was kein großes Problem war, da ja die Wasserleitung des herrschaftlichen Bades durch die Wand führte. Und weil von meinem Zimmer aus unser Bad am anderen Ende der Wohnung lag, also ungefähr fünf Kilometer entfernt, war es dort sehr nützlich, wurde von mir aber auch gerne mißbraucht, um Plastikboote auf dem Wasser darin segeln zu lassen oder meine Pullerpuppe nachzufüllen.
Und noch etwas gefiel mir an dem Zimmer, nämlich die alte, breite Fensterbank, auf die man sich locker mit dem ganzen Körper draufsetzen konnte, und die hinter zwei Türen einen geräumigen kleinen Schrank verbarg.
Meine Katze schaffte es manchmal geschickt, eine Tür aufzuziehen, um sich dann im Schrank aus den Büchern, die ich darin aufbewahrte, ein Nest zu bauen, indem sie die Pappeinbände so mit ihren Krallen bearbeitete, dass nur noch kuschelige Fetzen übrig blieben.

Eine Wohnung fehlt noch und das ist die, welche zwischen der des Kantors und der von M. lag. Da werden die frühen Erinnerungen ganz blaß, aber ich glaube, dass dort anfangs eine alte Frau wohnte. Ich bin mir nicht sicher, vielleicht hat sie auch vor einem der erwähnten Mieter in einer anderen Wohnung gewohnt, aber es steht felsenfest, des es eine alte Frau gegeben hat, denn ich kann mich entsinnen, dass meine Mutter mich einmal zu einem Besuch an ihr Bett mitnahm und ihr eine echte Apfelsine schenkte. Wahrscheinlich ist sie schon gestorben, als ich noch sehr klein war.
In dieser Wohnung jedenfalls lebte später eine alleinstehende und rundliche Pastorin. Mein Vater konnte sie nicht leiden und hat sich gerne, natürlich nur bei uns im Geheimen, über sie lustig gemacht, doch meiner Mutter hatte Frau G. in einer Zeit sehr geholfen, als sie ständig unter Panikattacken und Kreislaufproblemen litt und mein Vater im Krankenhaus lag, weil man erst eine Gelbsucht diagnostiziert hatte, aber dann feststellte, dass es doch nur ein Gallenstein war. Wenn meine Mutter wieder einmal von der U-Bahn in das Krankenhaus gefahren worden war, wartete ich manchmal nach der Schule bei Frau G., bis sie nach Hause kam, oder aber, wenn es Mama zu Hause schlecht ging, schickte sie mich zu ihr hoch und sie kam dann, und packte meiner Mutter kalte Eisbeutel auf die Stirn.

Als sie ausgezogen war, stand die Wohnung eine ganze Weile leer und sobald meine Eltern aus der Dienstwohnung ebenfalls ausziehen mussten, brachten sie mich, die ich inzwischen siebzehn Jahre alt war, in einem separaten Zimmer der Wohnung als Untermieterin unter, damit ich so bald wie möglich meine eigene Wohnung erhalte, denn in der DDR dauerte das normalerweise ein paar Jahre. Mein Vater bezahlte jeden Monat Fünfzig Mark für das Zimmer, genauso viel, wie später meine eigene richtige Wohnung kostete.
Um in die Küche und das Bad der Hauptwohnung zu gelangen, musste ich stets über den Hausflur, zum Kochen hatte ich eine kleine Elektrokochplatte im Zimmer und zu essen gab es alles, was sich ohne Kühlschrank ein paar Tage frisch hielt. Als einige Monate darauf die neue Pastorin in die Hauptwohnung einzog, musste ich mir mit ihr die Küche und das Bad teilen. Leider begann sie bald eine Liason mit jemandem aus dem Kirchenrat und ich hatte das Gefühl, dass er mich bespitzelte. Ich bin mir immer noch ziemlich sicher, dass er ein inoffizieller Mitarbeiter war, wirklich wissen tue ich es aber nur von ihr, da sie nach der Wende wegen ihrer Stasiaktivitäten suspendiert wurde. Als ich das hörte, musste ich daran denken, wie sie mich, gleich zu Beginn, zum Abendessen eingeladen hatte und mir die ganze Zeit über erzählte, wie sie und ihr Vater vom DDR-Regime drangsaliert worden sind, mit Berufsverboten und was weiß ich. Nun ja, hätte mir vielleicht gleich komisch vorkommen sollen, dass sie das jemandem, den sie nicht kennt, so auf die Nase bindet.

Fortsetzung folgt