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Montag, 16. Juni 2008

Die Begegnung

Mal wieder etwas später dran, weil seltsamerweiser sich immer am Montag alles morgens an der Kreuzung staut, war ich ziemlich in Eile und lief ausnahmsweise eine andere Strecke, als ich an der Straße vor der Polyklinik, es war schon kurz vor 9 Uhr, ein bekanntes Gesicht zu sehen meinte. Ich war mir einen Moment lang nicht sicher, da die Haare raspelkurz waren, anders als in Erinnerung, doch die andere Person schaute genauso entgeistert. Es war eine ältere Kollegin, mit der ich lange zusammengearbeitet habe, bevor ich in die jetzige Abteilung kam und mit der ich mich gut verstanden hatte. Natürlich fragten wir sofort, wie es geht und aufgrund ihrer kurzen Haare ahnte ich schon etwas. Sie erzählte dann auch etwas zögernd, daß kurz nach Rentenantritt, als sie eigentlich geplant hatte, zu reisen, Krebs festgestellt worden ist und sie gerade eine Chemotherapie hinter sich hat und ihre Brust abgenommen worden ist. Inzwischen sei wohl alles durchgestanden, aber der Brustaufbau stehe noch bevor. Ich umarmte sie, da ich bei solchen Nachrichten immer nicht weiß, was zu sagen, und als ich sie losließ, merkte ich, daß sie ein bißchen weinte. Zufällig war sie nicht nur meine Kollegin, sondern ist auch die Mutter eines meiner Schulkameraden, was ich aber erst während unserer Zusammenarbeit herausfand. Aus ihren Erzählungen weiß ich, daß sie schon eine Menge im Leben mitgemacht hat. Jahrelang lebte sie mit einem Trinker und Säufer, der sie regelmäßig grün und blau schlug, so daß man sie im Krankenhaus bereits kannte. Wegen seiner schlechten Gesundheit und der Alkoholkrankheit starb er bald und es gibt Gerüchte, daß sie dabei etwas nachgeholfen haben soll. Wenn man mit ihr darüber spricht, möchte man das fast glauben, denn sie macht keinen Hehl daraus, daß sie ihn loswerden wollte und ihm extra ungesundes Essen gekocht hat, welches er nicht zu sich nehmen sollte. Ich bin mir nicht sicher, ob das alles war, aber ich frage nicht danach. Von ihren zwei Söhnen litt der zweite, der nicht in meine Klasse ging, an Schizophrenie und sie hatte während seines kurzen Lebens jede Menge Ärger und Sorgen mit ihm. Während unserer Zusammenarbeit stürzte er sich aus ungeklärten Gründen aus dem Fenster seiner Wohnung im sechsten Stock, in welcher er sich verbarrikadiert hatte. Das war damals ein großer Schock für sie. Pervers an der Krankheit ist, daß sie immer sehr gesundheitsbewußt gelebt hat, das Rauchen abgewöhnt, regelmäßig ärztlich überwachte Fastenkuren gemacht, nach 17 Uhr nichts mehr gegessen, stets Gemüse, Obst usw. verzehrt. Da mich eine Horrornachricht nach der anderen erreicht, komme ich mir manchmal vor, als stände ich mitten im Auge einer schleichenden Epidemie. Natürlich wollte sie auch von mir einiges wissen und ich erzählte von der neuen Arbeit, meinem Vater und was sonst noch so passiert ist. Zum Abschied meinte sie: "Machs gut, du mußt ja noch eine Weile durchhalten." Ja, ich muß noch eine Weile durchhalten bis zur Rente, aber die stelle ich mir nicht so vor, daß ich, kaum zu Hause, von Arzt zu Arzt und Krankenhaus zu Krankenhaus ziehen darf. Jedesmal, wenn ich so eine Geschichte höre, finde ich dieses Malochen bis zur Rente unsinniger. Durch die Begegnung kam ich eine Viertelstunde zu spät ins Büro. Besser spät als nie, oder doch besser - nie als spät?