Über den Schmerz
Zur Zeit denke ich häufig an Frida Kahlo. Nicht daß mir ihre Kunst sehr nahesteht, es ist mehr ihre Lebensgeschichte, die jetzt wieder, nach den vielen Jahren, in meine Erinnerung tritt. Damals, noch vor der Verfilmung ihres Lebens, las ich eine Biographie über sie, die ich von einer befreundeten Bildhauerin geschenkt bekam. Ich fand ihr Leben und ihr Schicksal sehr beeindruckend, doch ich denke, daß ich nicht wirklich die Wahrheit über ihr Leben begriffen hatte, denn ich kannte noch keinen chronischen Schmerz. Ich bekam nur eine Information, deren Ausmaß jenseits meiner Vorstellungskraft lag. Heute denke ich an Frida Kahlo und staune. Ich frage mich, wie man mit ständigen Schmerzen so kreativ sein kann. Ich habe es vor Jahren bereits einmal in einer (sehr akuten, aber im Vergleich nicht sehr langen) Schmerzphase versucht, aber es ging gar nichts. Ich finde ihn äußerst uninspirierend, zumindest, wenn ich selbst gerade davon betroffen bin. Erst in der Rekonvaleszenz-Phase (glücklich, wer eine erlebt), sobald ich wieder neue Kräfte und Lebensfreude verspüre, bin ich bereit, mich mit dem Erlebten kreativ auseinanderzusetzen. Chronischer Schmerz ist tückisch. Er vergiftet den Kopf, verändert Stimmung und Persönlichkeit. Er verursacht einen inneren Aufruhr, begleitet von Sorgen und Existenzängsten, und läßt einen ständig durch dunkle Löcher der Hoffnungslosigkeit stolpern. Man erkennt sich nicht mehr wieder, bzw. man erkennt etwas, jedoch nicht sich, sondern die Züge von Personen, von denen man im Leben schon einige kennengelernt hat, denen man aber nie nacheifern wollte. Man erkennt sie in sich selbst und man begreift, was aber die Situation keineswegs bessert, sondern höchstens zu einer größeren Weisheit beiträgt, auf die man aber in diesem Moment gerne sch.... würde. Fast fühle ich mich wie eine Marionette in den Händen des Schmerzes - ein kurzer Zug hier, ein kurzer Zug da und schon fällt man von einer vorhersehbaren Stimmung in die nächste, ohne sich in der körperlichen Schwäche dagegen wehren zu können. Der wirklich verändernde Faktor ist dabei weniger die Stärke des Schmerzes, als viel mehr die Dauer. Proportional zur Dauer nimmt auch das jeweilige Schmerzempfinden zu, selbst wenn man dieses Ziehen, dieses Spannen, dieses Bohren über nur eine Woche hinweg locker wegstecken würde. Über den Zeitraum eines ganzen Lebens wird der kleinste Schmerz zu einem Monster. Ich gehe zwar arbeiten, funktioniere, wenn auch vielleicht ein wenig langsamer, was einem zusätzlich abschätzige Blicke einbringt, da man ja jung und dynamisch sein soll, trotzdem versuche ich mir nichts anmerken zu lassen und auch nicht darüber zu reden, weil ich aus jahrelanger Bürohyänenerfahrung weiß, wie man hinter dem Rücken sich über jedes Klagen oder selbst nur sachliche, erklärende Äußerungen die Mäuler zerreißt, sich der wahren Diagnose gewiß. Auf Verstehen kann man hier nicht hoffen, nicht einmal bei jedem Arzt kann man das. Normalerweise ist es mir relativ egal, ob ein Arzt selbst schon einmal eine Grippe, eine Angina, eine Gastritis, oder was es noch so alles an akuten Krankheiten gibt, hatte - schließlich weiß ich ja, daß es relativ schnell vorbei ist und der Arzt einen dann wieder gern haben kann, doch wenn es um chronische Beschwerden geht, würde ich am liebsten wissen, ob er selbst bereits unter ähnlichen Dauerbeschwerden gelitten hat. Erst dann kann ein Arzt tatsächlich begreifen, was die primären Symptome, denen in der Regel die alleinige Beachtung geschenkt wird, für Folgen nach sich ziehen. Schmerz macht dumpf, selbst das Denken erfolgt automatisch und mechanisch, dreht sich vor allem um eben diese Lebenssituation, da er sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in Erinnerung bringt. Man bekommt ihn nicht aus dem Kopf - ein schleichendes Gift, das die Lebenskräfte zersetzt. Und ich gebe mir selbst die Antwort auf obige Frage, wie man damit kreativ sein kann - es funktioniert wahrscheinlich erst, wenn man den Schmerz annimmt und akzeptiert. Ich kann und will das nicht, ich will nicht so leben, schon gar nicht, wenn ich wüßte, daß es für den Rest meines Lebens ist. Ich bin kein Held und ich bin nicht geduldig. In dieser Situation gelangt mein Laster, die Ungeduld, sogar zu neuen Steigerungen. Vielleicht gelingt es Menschen besser, die Schmerzen seit ihrer frühesten Kindheit kennen, weil sie es nicht anders gewohnt sind. Allerdings gibt es auch viel Gelegenheit, um dankbar zu sein, da ich weiß, daß es Menschen gibt, denen es schlimmer ergeht als mir. Ich bin dankbar, daß ich schlafen kann, dankbar über Momente der Schmerzfreiheit, die ich in der Bewegungslosigkeit erleben kann, danke sehr, vielen Dank, aber das reicht nicht. Das Leben stellt Aufgaben und schon das Einkaufen ist jedesmal eine Tortur. Heute morgen stand ich beim Zähneputzen vor dem Waschbecken und dachte, nein, da kommst du jetzt nicht mehr runter, es ist vorbei, es geht nicht mehr, auch nicht mit Zähnezusammenbeißen. Seit ich das Leiden meines Vaters gesehen habe, bin ich sensibilisierter, und auch durch das eigene Leiden, natürlich gar kein Vergleich dazu, aber leugnen hat keinen Zweck, verliert der Tod seinen Schrecken. So gesehen ist der Schmerz vielleicht sogar ein Freund, der helfen kann, sich vom Leben zu lösen, wer weiß, wozu es gut ist. Frida Kahlo schrieb in ihrem Tagebuch sinngemäß, sie hoffe, daß das Ende glücklich wird und sie nicht wiederkehre. So erkennt man die Wissenden....
(Diesen Text schrieb ich bereits am 23. 4. in mein Tagebuch. Zur Zeit ist es glücklicherweise dank Physiotherapie wieder besser. Allerdings habe ich Ende August meinen ersten Schmerzjahrestag. Vielleicht hätte ich den Text erst dann posten sollen, sozusagen zur Feier des Tages. )
(Diesen Text schrieb ich bereits am 23. 4. in mein Tagebuch. Zur Zeit ist es glücklicherweise dank Physiotherapie wieder besser. Allerdings habe ich Ende August meinen ersten Schmerzjahrestag. Vielleicht hätte ich den Text erst dann posten sollen, sozusagen zur Feier des Tages. )
zuckerwattewolkenmond - Fr, 22:45