Ehrlich,
ich habe mich noch nie so allein gelassen gefühlt wie jetzt. Also nicht körperlich, denn sehen will ich sowieso niemanden, mehr seelisch, moralisch und überhaupt. Wenn ich mich früher mit eigener Kraft aus diversen Sümpfen gezogen habe, gab es zumindest im Hinterkopf noch die schwebende Möglichkeit, professionelle Hilfe zu beanspruchen. Heute weiß ich, daß psychologische Hilfe für Krebspatienten wohl eher Illusion ist und mehr einer Indoktrination gleicht. Überhaupt scheint es mir, daß man als Krebspatient nirgendwo mehr dazugehört - nicht mehr zum Reich der Lebenden, aber auch noch nicht zum Reich der Toten. Man lebt wie in einer Art Blase, einem Zwischenreich oder Zwischenhölle. Dennoch wissen die Lebenden, die noch nie in diesem Zwischenreich waren, meist sehr genau, wie man sich dort zu verhalten, zu denken und zu fühlen hat. Normale menschliche Verhaltensweisen werden da schnell zur Sünde und mit Tabu belegt, und die Freiheiten, die man im persönlichen Umgang dazugewinnt, sind nur ein Tausch gegen andere persönliche Freiheiten, die man dabei verliert. Letztendlich bekommt man immer die gleichen Sprüche und Antworten, wie meine Zimmergenossin im Krankenhaus schon richtig bemerkte. Manchmal denke ich fast, die Toten hätten mehr Verständnis, aber die sind nicht mehr da und aus offensichtlichen Gründen möchte man sich mit ihnen nicht allzu sehr abgeben. Ich wünschte mir jemanden, der mich an die Hand nimmt, mir in meinen Belangen Mut macht, mir sagt, daß er Rat wisse und wir hierhin und dorthin gehen werden, und schließlich irgendwann alles gut sein wird. Aber da ist weit und breit niemand. Im Gegenteil. Wenn ich darüber mit anderen rede, dann bin ICH es, die gefragt wird: "Und was kann man dagegen tun?"
zuckerwattewolkenmond - Sa, 22:33