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Samstag, 7. April 2007

Sehr verehrter Herr Rilke,

seit einer Nacht und einem Tag überlege ich nun hin und her, ob ich es wagen soll, Ihnen einen Brief zu schreiben. Natürlich kennen Sie mich nicht, und ich fürchte, es wird Ihnen nicht recht sein, dass ich auf Briefe antworte, die eigentlich nicht für mich bestimmt sind. Ich weiß, dass es sich normalerweise nicht gehört, fremde Post zu lesen, doch bei großen Dichtern (wie Sie einer sind) wird eine Ausnahme gemacht, und das ist gut so, denn was für eine Verschwendung an wundervollen Gedanken wäre es, wenn es Ihre Briefe heute nicht überall in gedruckter Form zu kaufen gäbe. Man könnte fast ein wenig neidisch auf den Herrn Kappus werden, der so beseelende und bezaubernde Zeilen von Ihnen erhalten hat. Natürlich weiß ich auch, dass es Ihnen in Ihrem jetzigen Zustand kaum möglich sein wird, auf diesen Brief zu antworten - ich hätte ganz einfach eine Unterhaltung mit Ihnen führen können, denn Ihr zarter Geist umgibt uns noch heute überall, wenn man denn empfänglich dafür ist, aber da ich las, wie hoch Sie das Briefeschreiben schätzen, entschied ich mich, meine Gedanken auf diese Weise offenzulegen. Ich hoffe sehr, dass meine ungelenken Sätzen Ihr ästhetisches Empfinden nicht gar zu sehr stören. Ich gebe mir wirklich jede Mühe, mir Mühe zu geben, glaube aber, dass es damit alleine nicht getan ist, wenn nicht auch das Lesen mühselig und beladen sein soll. Deshalb ist es ein fast beschämendes Gefühl, gerade Ihnen zu schreiben, dessen Feder von so viel Schwere schreibt, aber dessen Worte so leicht und anmutig zu fließen scheinen, als seien Elfenfüße über das Papier getanzt, und dabei nicht leer sind, wie es so viele schöne Worte sind, sondern Gewicht und Tiefe haben. Es gelingt mir nur annähernd zu beschreiben, was ich empfand, als ich diese nicht für mich bestimmten Zeilen las, und noch weniger, es auch nur im entferntesten so wohlklingend wie Sie zu tun. Aber gerade das ist der Grund, weshalb ich Ihnen schreiben möchte, so dass dies kein Grund sein darf, es zu unterlassen.

Der Inhalt Ihrer Briefe hat Dinge aus meiner tiefsten Seele ausgesprochen und mir verständlich und klar in Sätze gefasst, wie es mir selbst bisher nicht gelungen ist. Nach dem Lesen hatte ich das starke Verlangen, das Buch an mein Herz pressen und mit ihm zusammen einzuschlafen, ein Privileg, das ansonsten nur meine liebe Puschel geniesst. Ich habe es nicht getan, um das Buch nicht zu zerknittern. Das alles mag für Sie vielleicht komisch klingen (zumal ich vielleicht auch ein wenig komisch schreibe), ist es für mich aber keineswegs. Und überhaupt müssen Sie nicht denken, dass ich, nur weil ich die Angewohnheit habe, mich gerne etwas spaßig auszudrücken, nicht verstehe, was Sie sagen wollen oder gar oberflächlich bin. Was gewisse menschliche Spitzfindigkeiten betrifft, mag das vielleicht so sein, aber nicht was die wirklich wichtigen Fragen unserer Existenz und meines eigenen Daseins angeht. Mit diesem Humor versuche ich der Schwere des Lebens wütend zu trotzen, so wie ich sie selbst sehr gut kenne, denn das Dasein ist schon schwer genug auch ohne dass ich dessen Ernst wie einen Orden vor mich her trage, bewundere aber ebenso die Ernsthaftigkeit und Hingabe, mit welcher Sie sich, den Briefen nach zu urteilen, dem Schrecken und der Traurigkeit zu stellen suchen, um Ihr Selbst zu bewahren, nicht zu dulden, dass es begrenzt wird und um andere Menschen wahrhaft lieben zu können, so wie es Ihrer
Vision der menschlichen Liebe entspricht. Und dennoch spricht aus allem, was Sie über die Schwere schreiben, ein großer Optimismus. Ich kenne Sie und Ihr Leben nicht gut genug, um zu wissen, wie weit Sie tatsächlich die Ängste der Einsamen kennen, die sogar jene befallen, welche die Einsamkeit brauchen wie die Luft zum Atmen, jedoch zeigen mir Ihre Zeilen, dass Sie zumindest teilweise aus eigenem Empfinden wissen müssen, worüber Sie schreiben und gerade das macht Ihre Briefe tröstlich in der Gewissheit, dass es immer Menschen gab und geben wird, die den Mut haben, der inneren Wahrheit in das grausame Gesicht zu sehen, aus der Hoffnung heraus, damit zur Geburt einer besseren Welt beizutragen. Eigentlich wollte ich noch viel mehr schreiben, gerade auch über das, was Sie über das Schaffen und die Kunst erklären, doch genau genommen gibt es dazu nicht mehr zu sagen, als dass es genau so ist, auch das, was Sie über das natürliche Wachstum schreiben, und doch wieder nicht ist, weil das Innere nichts ist ohne das Äußere und das Äußere nichts ohne das Innere, ebenso wie ein Same zwar im Dunkel keimen, aber der zarte Keim nicht ohne Nahrung und Licht wachsen und blühen kann. Aber es ist wahr, je jünger das Pflänzchen ist, um so wichtiger ist das richtige Maß, denn genauso wie zu wenig Sonne und Nahrung, so können auch zu viel Sonne und andere äußere Einflüsse das Pflänzchen verbrennen und töten. Weder ein Zuviel noch ein Zuwenig kann die Entwicklung beschleunigen, deren Geschwindigkeit ganz im eigenen Sein angelegt ist.

Ich danke Ihnen ganz herzlich für die wunderbaren Zeilen, die es mir vergönnt war zu lesen, und die ich sicherlich in meinem Leben noch öfters zur Hand nehmen werde, um mich an ihnen zu erfreuen.

Ihre

Zucker

Ich schaue

gerade "Goebbels und Geduldig" im Ersten. Das ist ja wirklich mal ein richtig witziger Film zu dem Thema. Ich lach mich schlapp.