Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie tatsächlich geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen - so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
Eine Unterrichtsstunde an der Fachhochschule. Dozentin ist ein ziemlich unscheinbares Mäuschen mit Hakennase, Brille und sehr leiser Stimme. Das führt zu einiger Unruhe im Raum, so daß ich letztendlich vom Unterricht überhaupt nichts mitbekomme. Anderen geht es wohl genauso, und die Dozentin, etwas genervt, greift zu drastischeren Mitteln, indem sie droht, sie stelle uns jetzt eine Frage im Zusammenhang mit dieser Unterrichtsstunde, zu der wir etwas aufschreiben sollen. Später werden wir, entweder einzelne oder alle, geprüft.
Die Frage, die sie stellt, verstehe ich ganz gut: "Was ist der Unterschied zwischen Twitter in der deutschen und in der amerikanischen Version?", nur leider habe ich nicht den geringsten Schimmer. Eigentlich wußte ich bis jetzt noch nicht einmal, daß wir Unterricht über Twitter hatten. Wenn ich da etwas mitbekommen hätte, wär das ja vielleicht sogar recht interessant gewesen. Unser Lehrbuch, eine Ausgabe des "Spiegels", liegt neben mir und ich versuche unauffällig, daraus noch einige Informationen zu entnehmen, was aber nicht gelingt. Dann greife ich zu einem A4-Blatt und tue so, als sei ich sehr beschäftigt mit schreiben, schreibe aber nur fein säuberlich auf dieses Blatt: "Twitter deutsch: (großer Absatz)",
Twitter amerikanisch: (großer Absatz),
Nenne die Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Twitter-Version! (großer Absatz)"
Ich schreibe jetzt immer langsamer, weil sie neben mir steht und ich nicht in die Verlegenheit kommen möchte, nicht mehr weiterschreiben zu können. Schaut sie auf mein Blatt? So langsam bekomme ich Schweißausbrüche. Endlich ist der Unterricht zu Ende und die anderen stürmen schon aus dem Raum. Ich werfe ebenfalls schnell die Sachen in meine Tasche und bin weg. Vor dem Raum der Fachhochschule sieht es ein wenig aus wie in einem Warenhaus und in einem Auslagegitter liegen zwei Ausgaben des "Spiegel". Zum einen die, die wir als Lehrmittel auch im Unterricht hatten, und zum anderen eine, die als Thema ein Vstream-Lexikon hat. Vstream -denke ich - , ist das nicht diese Musikcomputersprache?
Bemerkung: Und natürlich ist mir im Traum absolut nicht eingefallen, daß es GAR KEINE DEUTSCHE VERSION GIBT! *grrrrr*