Alien
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Sonntag, 23. Januar 2011

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An einem ihrer letzten Tage in offener Landschaft, während der Wind durch die hohe Indianerhirse wehte, sagte ihr Vater: "Da hast du dein Gold, Dahlia, und zwar das einzig wahre." Wie üblich warf sie ihm einen forschenden Blick zu, denn inzwischen wusste sie in etwa, was ein Alchemist war und dass keiner aus dieser windigen Bande sich jemals klar äußerte - ihre Worte bedeuteten immer etwas anderes, manchmal sogar, weil sich dieses "Andere" im Grunde vielleicht so der Sprache entzog, wie sich abgeschiedene Seelen der Welt entziehen. Sie sah zu, wie die unsichtbare Kraft unter den Millionen von Halmen wirkte, die so hoch waren wie ein Pferd samt Reiter, sah sie unter der Herbstsonne meilenweit fließen, größer als Atem, größer als die Wiegenlieder der Gezeiten, die notwendigen Rhythmen eines Meeres, das sich weit weg von jedem verbarg, der es suchen mochte.
(aus "Gegen den Tag" von Thomas Pynchon)

Fehlende Escape-Taste

J. ist zwar etwas mürrisch und störrisch, aber bestimmt kein schlechter Kerl. Bei einer Fortbildungsveranstaltung in einem großen Saal, bei der jeder in einem Bett unter seiner eigenen Steppdecke liegt, sind wir uns näher gekommen. Ich liege nun sogar schon unter seiner Decke und er verwöhnt mich hingebungsvoll mit Oralsex. Er kann das gut, weshalb ich ihn gewähren lasse, es bleibt allerdings nicht aus, daß andere etwas mitbekommen. Noch immer seine Decke umgelegt schleiche ich mich in mein Bett zurück. Mein Spielpatzfreund, der ebenfalls etwas gemerkt hat und anscheinend eifersüchtig ist, macht hämische Bemerkungen über die Indizien, wie zum Beispiel das Mitbringsel. Zufrieden wie ein schnurrendes Kätzchen prallen die Sticheleien an mir ab und ich antworte frei heraus etwas provozierend: "Ja, ich habe J.s Kuscheldecke bekommen."

In einem gewöhnlichen Traum verändert sich auf einmal blitzschnell die Szenerie, so als würde sich ein neues Computerbild aufbauen. Die neue Szenerie ist irgendwie unheimlich mit seltsamen Gestalten, die abgetrennte, blutige Köpfe bei sich herumzuliegen haben. Mir wird klar, daß ich hier zufällig mitten in einem Computerspiel gelandet bin, aber in einem, das mir nicht gefällt. Eigentlich hat jedes Spiel einen Ausgang, die Escape-Taste oder ähnliches, aber so mitten drin, weiß ich nicht, wo ich suchen soll. Wo finde ich den Ausgang, bzw. die Escape-Taste? Hier gibt es nirgendwo eine Tastatur, also muß die Escape-Taste irgendwo anders versteckt und eingebaut sein. Vielleicht eine Tür oder ähnliches. Ratlos bleibt mir nichts weiter übrig, als weiterhin in der Szenerie suchend herumzuschlendern, wobei ich an einigen der seltsamen Leute und abgetrennten Köpfe vorbei muß. Ich versuche mich dabei so unsichtbar wie möglich zu machen, aber sie rufen mir etwas zu. Gespielt unbefangen antworte ich und tue so, als würden mir die blutigen Köpfe nicht auffallen.

Bemerkung: Für mein Leben hätte ich manchmal auch gerne eine Escape-Taste.

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Die Chemo macht mich fertig. Nach der ersten denkt man noch, ok, mußt du halt durch, und überhaupt ist das Kotzen ja nichts Neues. Vom Tramadol kenn ich das schon. Nach dem zweiten Mal denkt man, man wird dieses Übelkeitsgefühl überhaupt nie mehr los und vergessen, aber auch nicht den Geruch nach Infusionen, der erneut Übelkeit verursacht. Ich rieche die Infusionen sogar in meiner Haut, das Schnuppern an meiner Haut verursacht Übelkeit. Ich rieche ständig Infusionen. Vielleicht ist das Einbildung, denn mein Mund ist taub und meine Fingerspitzen sind taub, also müßten theoretisch auch meine Geruchsnerven taub sein, aber ich rieche trotzdem und wenn es ein Phantomgeruch ist. Auch der Gedanke daran Wasser zu trinken, verursacht Übelkeit, ebenso der Geruch von Wasser. Immerhin sind ebenfalls die Rückennerven einigermaßen taub, so daß ich kurz nach der Chemo nicht so starke Rückenschmerzen habe, die aber trotzdem stetig zunehmen. Wahrscheinlich weil ich die ersten zwei Tage nach der Chemo nur wie ein Stein seitlich zusammengerollt auf der Couch liegen kann und es nicht einmal schaffe, mich zuzudecken wenn mir kalt ist. Neben dem Rücken schmerzen aber auch die Leber und die Nieren, im Brustbein zwickt es und überhaupt fühlt man sich mehr tot als lebendig. Mein Blutdruck, sonst nach einer schweren Virusgrippe eher grenzwertig, sinkt mit jeder Chemo stetig, dümpelt zur Zeit bei 105/68 herum, und ist wahrscheinlich, wenn er so regelmäßig weiter sinkt, nach der vierten Chemo bei 80/28, also fast bei scheintot. Das führt nicht nur zu Antriebslosigkeit, sondern auch zu massiver Gehirnleere, so daß es bereits zu einer Anstrengung wird, irgendeinen intelligenten Satz zu schreiben. Das ist vielleicht dasselbe Prinzip wie bei Männern, denen das Blut in den Schw... sackt, nur daß es bei mir irgendwo anders versickert, zum Teil in Laborröhrchen. Jetzt verstehe ich auch, warum als Spätschaden von Chemos Gehirnleistungsstörungen angegeben werden. Liegt wohl an der Unterversorgung. Jedenfalls hoffe ich, daß der niedrige Blutdruck nicht schon das erste Anzeichen einer Herzschwäche ist, einer häufigen Nebenwirkung der Chemo. Vielleicht bin ich etwas hypochondrisch, aber ich finde, in meiner Situation und bei meinem "Glück" habe ich das zutiefst verdiente Recht hypochondrisch zu sein. Nach der dritten Chemo denkt man nur noch - ich will nicht mehr! Ich fühle mich wie eine Sarah in einer endlos langen Alptraum-Dschungelprüfung, möchte ständig sagen - nein, das mach ich nicht, und gegen das fiese Schicksal-Publikum anbocken. Nee, ich bin kein Kämpfer, war ich noch nie, ich bin ein heulendes Häufchen Sarah-Elend, aber leider kein Star und niemand holt mich hier raus. Und ich habe es satt, mir dauernd von irgendwelchen Leuten sagen zu lassen, was ich tun, wie ich denken, was ich essen und wie ich mich verhalten sollte...

Fortsetzung folgt