Auf der Straße
traf ich heute R. und in solchen Momenten bin ich immer froh, daß sich Männer in der Regel nicht für Frisuren interessieren und auch nicht danach fragen. Trotzdem bleibt stets ein Quentchen Zweifel, ob er die verräterischen Indizien nicht doch bemerkt hat und nur zu feinfühlig war, mich darauf anzusprechen. Schließlich habe ich an Stelle der Augenbrauen und Wimpern nur noch ein paar Borsten und fühle mich insgesamt wie ein gerupftes Huhn, das die fremden Federn eines Goldfasans auf dem Kopf trägt. Zumindest sind die Ponyfedern aber so lang, daß man das Gesicht dahinter ein bißchen verstecken kann. Mehr als ein bißchen verstecken geht jedoch nicht. Ich fühle mich alles andere als begehrenswert und bei gewissen Begegnungen nervt das. Natürlich könnte ich mir sagen, wer sich jetzt plötzlich von mir abgeschreckt fühlt, auf den kann ich eh verzichten, aber so einfach ist das nicht. Und natürlich könnte ich mir auch Wimpern ankleben und Augenbrauen malen, so wie eine der anderen Chemopatientinnen, müßte aber Angst vor jedem Tropfen Regen haben, weil die Wimpern mir auf einmal schräg im Auge hängen könnten. Am Mittwoch sprach mich jemand im Chemoraum an, weil meine Fingernägel noch alle normal aussehen. Bei ihr sind sie braun geworden und sie übermalt sie jetzt mit Nagellack. Eventuell blüht mir das später ebenfalls. Und wenn ich mir vorstelle, ich wäre bereits zwanzig Jahre älter und müßte neben Perücke, falschen Wimpern und Augenbrauen, Nägel lackieren, auch an meine falschen Zähne denken, und dazu vielleicht noch an eine Brustprothese, meine Güte, ich glaube, da wäre ich bereits erschöpft, bevor ich einen Schritt nach draußen getan hätte. Was macht man eigentlich, wenn in dieser Situation das Gedächtnis nachläßt? Abhaklisten schreiben und vervielfältigen? Obwohl - noch ein paar Reaktorunfälle und radioaktiver Fallout mehr, und schon sehen alle so aus wie ich....
zuckerwattewolkenmond - Sa, 20:59