Natürlich wußte ich, dass sie ein schwieriger Fall ist, aber was hätte ich tun sollen? Sie an einen Anfänger verweisen? Ich weiß, daß ihre Liebe narzisstisch war und sie mir sicher einen Hass entgegenbrachte, der im Verhältnis zu ihrer Abhängigkeit stand. Aber ich hatte meine alte Regel vergessen: "Jeden Tag ein bewusstes und akzeptiertes Todesgelöbnis, und es braucht keine Psychoanalyse."
(aus "Marilyns letzte Sitzung" von Michel Schneider)
mir ist erst heute aufgefallen, daß in der Eingangshalle der Strahlenklinik ein riesiger Klapperstorch steht. Er hält eine Tafel im Schnabel, auf der wie das Tagesmenü mit Kreide geschrieben steht: Heute geboren: Datum, Uhrzeit und Vorname. Am 24.8. war es bei meiner Ankunft bisher nur ein Mädchen.
Die erste Bestrahlung hat furchtbar lange gedauert, jedenfalls kam es mir so vor, weil dauernd irgendetwas auf meinen Armen und meinem Gesicht herumgekrabbelt ist. Erst hielt ich es für Schweißtropfen, doch als es dann auch bergauf krabbelte, dachte ich mir, es müsse wohl eine Fliege sein. Auch krabbelte es immer nur an einer Stelle und sprang von einem Arm zum anderen. Während ich also regungslos darniederlag, ständig die Zähne zusammenbiß um einen Fliegenverscheuch-Reflex zu unterbinden und nicht plötzlich mit den Armen zu fuchteln, räsonierte ich darüber, wer oder was sich da einen Spaß macht, mich zu ärgern, und was die Schwestern wohl denken und warum sie nichts tun, wenn eine Fliege in meinem Gesicht herumkrabbelt. Endlich kam eine von ihnen mit den Worten, ich solle weiter liegen bleiben und schön still halten. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte, daß da irgendetwas in meinem Gesicht sei, worauf sie nur antwortete: "Gut!" und ging. Ähm...dachte ich so bei mir, zu mehr reichte es nicht. Nach gefühlt zwanzig Minuten ging das Licht an, die andere Schwester kam herein und ich dachte, alles wäre vorbei, aber sie erklärte mir, daß bisher nur Bilder gemacht wurden und erst jetzt die eigentliche Bestrahlung beginnen würde. Die kurze Pause dazwischen nutzte ich, um immer, wenn es wieder krabbelte, schnell auf meine Arme zu schauen, aber ohne daß ich eine Fliege oder ähnliches entdecken konnte. Ich werde mir doch das Gekrabbel nicht nur eingebildet haben? Als es dann weiterging, meditierte ich zur Ablenkung darüber, was geschieht, wenn die Fliege sich auf die Brust setzten würde. Wird sie mitbestrahlt? Und wie ergeht es wohl einer Fliege, die ganzkörperbestrahlt wurde? Ist sie danach resistent gegen Krebs? Bekommen Fliegen überhaupt Krebs? Oder bleibt sie tot liegen?