Alien
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Mein Vater ist heute 78 Jahre geworden.

Als ich zum Pflegeheim fahren wollte und die Menschentraube an der Bushaltestelle gesehen habe, dachte ich echt, ich bin im falschen Film. Die Busse waren heute fast noch voller als wöchentlich zur Hauptverkehrszeit. Ich frage mich, ob die Leute am Advent alle kein Zuhause haben. Meine Mutter hat meinem Vater zum Geburtstag einen kleinen, mit echtem Leder bezogenem Flachmann geschenkt, den sie mit Weinbrand gefüllt hatte. Sie hatte schon vorher immer eine unauffällige weiße Plastikflasche mit Rotwein mit in das Heim genommen. Ich fragte sie deshalb scherzhaft, ob sie ihn jetzt noch zum Alkoholiker machen wolle und sie meinte nur, was könne ihm denn schon jetzt noch passieren. Leider gab es auch an diesem Geburtstag wieder einen Todesfall zu beklagen, denn einige Tage zuvor ist ein Studienfreund meines Vaters gestorben. Als er das erfuhr, war er zwei Tage lang total geknickt. Heute wirkte er dagegen wieder sehr fidel, war aber völlig woanders. Schon gestern hatte er eine große Planung aufgestellt, wer alles zu seinem Geburtstag kommen solle und hatte überlegt, welches Zimmer er zum Feiern nimmt. Er war vollkommen im Dorf und im Zuhause seiner Kindheit. Auch heute wollte er dauernd seine Schuhe haben, um Bus zu fahren (in seinem Dorf fuhr natürlich nur alle paar Stunden der Bus, den man nicht verpassen durfte) und wurde dann ungeduldig, weil sich keiner bemüßigt fühlte, ihm Schuhe zu bringen. Soll ich vielleicht mit Pantoffeln Bus fahren? - fragte er und nannte meine Mutter mal wieder bekloppt, weil sie immer nur beschwichtigend abwinkte. Wir mußten darüber lachen, weil das so typisch ist - alle anderen sind bekloppt, nur er nicht. Aber in seiner jetzigen Situation wirkt dieses Spiel natürlich immer grotesker. Dann fragte er meinen Bruder und mich, was wir davon halten, daß meine Mutter immer sagt, er braucht keine Schuhe und soll liegen bleiben. Wir bestätigten dies eifrig und sagten, daß der Bus oft fahre, er brauche sich nicht zu beeilen und könne auch im Bett bleiben. Dann gab er mit den Schuhen Ruhe ("Ach, am besten ist, ich bleibe im Bett."), hatte aber immer Angst, daß wir nun den Bus verpassen. Er fragte, wo die Haltestelle ist, schaute dauernd auf seine Armbanduhr und rief: "Es ist ja schon dreiviertel Vier! Müßt ihr denn nicht los?" Wir sagten zwar, daß wir uns beeilen würden und die Haltestelle gleich um die Ecke wäre, aber so hat er uns dann mehr oder weniger rausgeschmissen. *gg*
Er war wirklich die ganze Zeit in dem Dorf seiner Kindheit, dachte wohl auch, er befände sich in seinem Elternhaus und ich war mir nicht mal sicher, ob er mich für den hält, der ich bin, oder nicht vielleicht für seine Schwester. Er erzählte nämlich auch wiedermal, daß er mich im Fernsehen gesehen hätte, sagte aber immer den Namen meiner Tante. Doch dann fragte er mich plötzlich, ob mir die Tochter seines Studienfreundes erzählt hätte, daß dieser gestorben ist. Ich habe nämlich einmal vor vielen Jahren, noch während meiner Ausbildung, während eines Praktikums, mit der Tochter zusammengearbeitet. Da war ich wiederum platt, daß er das noch wußte.

*das neunte Teetürchen, einen chinesischen Grüntee, schlürft*

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