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Die Frage, wohin die Transporte gingen, ließ sich schon Anfang August beantworten. Die jüdischen Wachtposten auf dem „Umschlagplatz“ hatten die Nummern der Waggons notiert und mußten zu ihrer Verblüffung feststellen, daß die Züge keinen weiten Weg zurücklegten, daß sie keineswegs nach Minsk oder Smolensk gingen. Denn die Waggons waren schon nach wenigen Stunden, höchstens vier oder fünf, wieder in Warschau. Bald wurde bekannt, daß alle Transporte zu einem nordöstlich von Warschau gelegenen und nicht viel über hundert Kilometer entfernten Bahnhof gingen, der zu Treblinka gehörte, einer kleinen benachbarten Ortschaft. Von diesem Bahnhof führte ein etwa vier Kilometer langes Nebengleis in eine dicht bewaldete Gegend, in der sich das Lager Treblinka befand. Wirklich ein Lager? Wenig später erfuhr man noch, daß dort kein Konzentrationslager war, geschweige denn ein Arbeitslager. Dort gab es nur eine Gaskammer, genauer: ein Gebäude mit drei Gaskammern. Was die Umsiedlung der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung - die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
zuckerwattewolkenmond - Mi, 22:36
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