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Freitag, 15. September 2006

Der langsame Abschied meines Vaters

"Stell dir vor was heute passiert ist: Ich bin rübergegangen und die Tür war verschlossen!" begrüßte er letztens meine Mutter. Es ist hauptsächlich sie, die das wirre Zeug, das er jetzt mehr und mehr von sich gibt, mitbekommt, da sie ihn noch immer fast jeden Tag im Pflegeheim um die Ecke besucht. Wenn ich oder mein Bruder ihn besuchen, dann erkennt er uns zwar, vergisst aber sofort wieder, dass wir da gewesen sind. Meine Mutter ist froh darüber, dass sie ihn in dem evangelischen Heim gut aufgehoben weiß und hat jetzt erneut begonnen, mittwochs zum Töpfern zu gehen. Das Personal ist bemüht, er hat sein eigenes Zimmer, wird alle zwei Stunden umgebettet, damit er sich nicht wundliegt - er kann sich ja selbst nicht bewegen - und das Essen dort scheint gut zu sein, denn im Gegensatz zum Krankenhaus, haut er mittags tüchtig rein. Vor ein paar Tagen gab es Eierkuchen - Plinsen sagte er dazu, wie sie im Spreewald heißen - und er hat jede Menge verdrückt.
Windeln trägt er jetzt nicht mehr, denn von alleine geht nichts mehr - er wird seinen Blasenkatheder behalten und auch den künstlichen Darmausgang. Seine ehemalige Hausärztin betreut ihn im Heim weiter, hat eine Spezialmatratze für in beantragt, die wie eine Luftmatratze mit Luft gefüllt ist und am besten gegen das Wundliegen helfen soll. Sie meinte, dass sie bisher wenig Glück mit diesen Matratzen hatte, weil sie von der Kasse meist abgelehnt wurden, aber bei meinem Vater haben sie die Kosten anstandslos übernommen. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass er nochmal auf die Beine kommt und er scheint selbst kein Interesse daran zu haben. Meine Mutter wollte ihm die Vorstellung schmackhaft machen, dass sie ihn mit einem Rollstuhl in den anliegenden Park fahren könnte, wenn er in der Lage wäre zu sitzen, aber das scheint kein Anreiz für ihn zu sein, er zuckt dann nur mit den Schultern. Eine Physiotherapeutin war da, die seine Füße bewegt und ein paar Übungen mit ihm gemacht hat, er hatte aber schnell genug und später darauf angesprochen, erneut einige Übungen zu machen, antwortete er, dass er das doch schon getan hätte und man ja auch mal eine Ruhepause brauche.
Es ist nicht mehr zu übersehen, dass es nicht alleine das körperliche Handikap ist. Er redet immer häufiger von längst verstorbenen Menschen, sagt zu uns, wir sollen seine Mutter grüßen, bzw.fragt was sie macht, redet auch von meiner anderen Großmutter und dass sie doch kommen wollte, fragt nach Leuten, die er selbst schon längst beerdigt und unter die Erde gebracht hat. Neulich sagte er zu meiner Mutter, dass er um Fünf Uhr eine Beerdigung habe und sie ihm die schwarzen Schuhe und den Talar bringen soll, und ein anderes Mal eben dieses: "Stell dir vor was heute passiert ist: Ich bin rübergegangen und die Tür war verschlossen!" Er setzte noch hinzu, dass er nicht mehr rausgekommen sei, deshalb geschrien habe und die Heimleiterin erschienen sei. Eine Schwester, darauf befragt, erklärte, dass es tatsächlich einen Zwischenfall gegeben habe. Er sei mit dem Fuß zwischen das Gitter des Bettes gerutscht und hätte ihn sich eingeklemmt. Als er laut geschrien habe, seien sofort ein paar Schwestern in das Zimmer gelaufen und hätten ihn befreit. Nun kann man rätseln, was es mit dem Rübergehen und der Tür auf sich hat. Ich vermute stark, dass er nicht mehr zwischen Träumen und Wirklichkeit so recht unterscheiden kann, denn einen anderen Tag meinte er zum Beispiel, dass ihm sämtliche Zähne ausfallen würden, was aber nicht stimmt - er hat noch alle und die sitzen fest. Vermutlich hat er das geträumt und bei dem Vorfall hat er eventuell ebenfalls geträumt, da er außerdem was von "Unterricht" erzählte. Vielleicht ist er im Traum in den Gemeindesaal hinüber gegangen, wo immer der Konfirmandenunterricht statt fand. Oder er ist wirklich "rübergegangen" und es war die Himmelspforte, die er verschlossen fand. K. meinte einmal, das Leben beginnt in Windeln und es endet in Windeln. Ich glaube, das ist sogar im weitesten Sinne wahr, denn nicht nur, dass er hilflos wie ein Säugling ist, gefüttert, gewaschen und gebettet werden muss, es ist ja auch ein Phänomen bei Säuglingen und Kleinkindern, bei denen das Bewußtsein noch nicht vollständig entwickelt ist, dass sie Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden können. Genauso ist es wohl am Lebensende, wenn das Bewußtsein sich langsam wieder zurückzieht. Ob dies nun tröstlich ist oder nicht, darüber kann man nur spekulieren, aber erst jetzt verstehe ich den Traum, den ich hatte, kurz nachdem mein Vater in das Krankenhaus kam (es ist nach meiner Erfahrung häufig so, dass man Träume erst nach einiger Zeit deuten kann, wenn entsprechende Ereignisse eingetreten sind). Ich träumte von einem älteren Mann mit einer Mitra auf dem Kopf, der langsam im Wasser eines Sees oder Teiches versinkt, bis nur noch die Mitra zu sehen ist. Damals habe ich meinen Vater nicht erkannt und konnte mit dem Traum nichts anfangen, da er zum einen keine Todesnachricht zu sein schien, aber auch nicht das Gegenteil. Und als evangelischer Pfarrer trägt er natürlich keine Mitra. Nun jedoch sieht mein Vater völlig verändert aus - der Vollbart ist ab, das Haar ist viel weißer und seine Augen sind so unglaublich hell (ein helles Grün, das früher mehr grau wirkte, und das sich in meinen Augen wiederholt), unnatürlich hell, was wahrscheinlich durch die Opiate in den Schmerzmitteln kommt, durch die sich die Pupillen verengen. Und jetzt gleicht er haargenau dem Bild des Mannes aus meinem Traum - ich hatte ihn damals schon so gesehen, wie er heute ausschaut. Auch das andere im Traum erklärt sich fast von selbst: Es ist ein langsames Weggleiten, Absinken in den Schoß des Unbewußten, nur was die Mitra symbolisiert, ist nicht ganz klar, vielleicht eine Essenz, vielleicht aber auch ein Status.

Ich glaube, dass es noch eine Weile dauern wird, bis er vollständig "hinübergegangen" ist. (Ich glaube auch ungefähr zu ahnen, wann das sein wird, denn die Hinweise waren bei ihm immer sehr deutlich, und eventuell werde ich dazu noch einen eigenen Eintrag für Astrologieinteressierte schreiben.) Bis dahin wird er wohl weiter hin- und herreisen und allem Anschein nach etliches aus seinem Leben aufzuarbeiten versuchen. Jedenfalls hat er sich neulich ganz überraschend bei meiner Mutter für die viele Arbeit, die sie mit ihm hatte und noch haben wird, bedankt - etwas, was vorher niemals vorgekommen ist.
Ab und zu ist er noch aggressiv, aber als ihn letztens eine der Schwestern darauf ansprach, warum er sie beschimpft, behauptete er, nichts davon zu wissen und entschuldigte sich schließlich. Ich könnte mir vorstellen, dass er sowas teilweise wirklich nicht mehr weiß, zum einen, weil er es wahrscheinlich längst wieder vergessen hat, oder zum anderen, weil es tatsächlich sowas wie Aussetzer sind.
Er hat jegliches Interesse an Büchern verloren, hat zwar tonnenweise davon angehäuft, doch jetzt, wo es an das letzte geht, sind es wohl doch nur die einfachen Dinge, wie zum Beispiel Süßigkeiten, die noch Beachtung finden. Irgendwann, und sei es erst mit einem Bein im Grab, wird anderes wichtiger.

Mich erinnert seine beginnende Demenz stark an das Schicksal meiner Großmutter, seiner Mutter. Diese hat in hohen Jahren im Altersheim auch ständig von verstorbenen Leuten geredet und von ihrer Arbeit, dass sie Brötchen austragen müsse, usw.
Ich vermute, dass meinem Vater die Veranlagung dazu vererbt wurde und durch die vielen Narkosen, sowie das künstliche Koma und die Isolation der Ausbruch sozusagen forciert wurde. Deshalb bin ich entgegen meiner Mutter gar nicht so sicher, ob ein Einzelzimmer wirklich so günstig ist, selbst wenn er nichts hören kann. Als er im Krankenhaus in einem Mehrbettzimmer war, hat er sich immerhin für die anderen Kranken interessiert, war neugierig und wollte dauernd wissen, was dieser hat und was jener. Ich glaube, dass es hauptsächlich der Wunsch meiner Mutter ist, dass er allein liegt, damit sie mit ihm alleine im Zimmer sein kann. Überhaupt ist es manchmal wirklich grausig zu beobachten, mit welchem Enthusiasmus sie sich auf ihren neuen hilflosen Säugling wirft. Das hört sich vielleicht zynisch an, aber das Grausige ist dabei nicht, dass sie sich um meinen Vater kümmert, sondern das Grausige ist es zu sehen, mit wie viel Egoismus und fehlendem Einfühlungsvermögen sie das macht. Auf den ersten Blick scheint es, als würde sie sich selbstlos für jemand anderen aufopfern, doch auf dem zweiten Blick erkennt man, wie sehr sie selbst den anderen braucht und sich in dieser Aufgabe ohne Rücksicht auf Verluste oder die Person des anderen durchzusetzen versucht. Ihr selbst ist das natürlich nicht bewußt, sie glaubt, nur das Beste zu wollen, was ja wirklich stimmt, nur dass sie nie merkt, wie stark die Entscheidung über das Beste von ihrem eigenen, verleugnetem Egoismus beeinflußt wird. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich als Kind gezwungen war, immer eine gewisse Distanz zu meiner Mutter aufzubauen, eine Vorgehensweise, die ich bis heute ebenfalls bei anderen Menschen beibehalten habe, um nicht völlig von meiner Mutter vereinnahmt zu werden und meine eigene Identität zu verlieren. Erst im Nachhinein merke ich, wie sehr ihr es trotzdem gelungen ist, mich in Hinsicht meiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu verwirren. Doch was die Beziehung zwischen meinen Vater und meiner Mutter angeht, mische ich mich da nicht mehr ein. Beide waren/sind so voneinander abhängig, dass sie sich trotz aller Aggressivität, Feindseligkeit und aller gegenseitigen offenen und versteckten Manipulationen für ein ganzes Leben zusammen entschieden haben, und in dem Maße, wie seine Persönlichkeit zerfällt und die Rollen eindeutig verteilt sind, wird es ihn nicht mehr stören. Manchmal denke ich sogar, es sollte so sein, es war vorherbestimmt, vielleicht gibt es tatsächlich Wiedergeburt und Karma und beide haben dieses Szenario freiwillig in einem anderen Leben gewählt.

Mir bleibt zu hoffen, dass ich neben der Augenfarbe nicht ebenfalls dieses Demenzgen vermacht bekommen habe, und dass es so, wie alles gekommen ist, gut war. Für meine Mutter war es das auf jeden Fall. Sie meint, wenn es ein plötzlicher Todesfall geworden wäre, wäre sie total überfordert gewesen. So hat sie jetzt Zeit sich langsam daran zu gewöhnen, allein zurecht zu kommen. Und ich selbst finde, dass sie in dieser neuen Situation, wo sie die Möglichkeit hat, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und gleichzeitig weiterhin ihren Sinn darin findet, jemanden zu bemuttern, regelrecht aufblüht. Ob es für meinen Vater auch besser so ist, werden wir nie wissen.