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Die längst vergessenen, alten Schulhefte

Eigentlich hätte ich nicht damit gerechnet, diese noch einmal in meinem Leben wieder zu sehen. Schließlich habe ich sie stets so bald wie möglich nach einem Schuljahr oder wenn ich wusste, dass ich sie nicht mehr brauche, entsorgt. Ich hegte nie das Bedürfnis, so etwas aufzuheben. Das einzige, was ich noch besitze, ist meine Facharbeiterprüfungsarbeit mit dem Titel: "Untersuchen Sie, welche Spezialmaschinen bei der Anfertigung einer Hose eingesetzt werden, beschreiben Sie deren Anwendung und die sich daraus ergebenden Vorteile.", eine Staatsbürgerkundearbeit zu der Aufgabe "Erarbeite eine Argumentation zu der Behauptung, die Sowjetunion bedrohe die freie Welt mit einer maßlosen Aufrüstung und trage somit die Schuld an der Verschärfung der internationalen Lage!", eine Semesterarbeit zu dem Thema: "Gefährdet der Dualismus zwischen den öffentlich-rechtlichen und den privaten Funkmedien die politische Funktion dieser Massenmedien?", sowie diverse juristische, betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Klausuren. Ich habe meine Schulhefte und -hefter gehasst, ebenso wie ich meine Schrift und generell das Mitschreiben gehasst habe, und hatte nie Lust, mir mein Gekrakel irgendwann nochmal zu Gemüte zu führen.

Heute nun erzählte meine Mutter, als ich bei ihr war, um wieder einigen Müll wegzuschaffen, dass sie den letzten großen Karteikasten meines Vaters erst nicht aufbekommen habe, er ihr aber plötzlich herausgerutscht und der gesamte Inhalt herausgefallen wäre. Dieser bestand aus Bergen von handbeschriebenen und in der Mitte durchschnittenen Papierblättern. Meine Mutter fragte mich feststellend, dass das doch meine Handschrift wäre. Ich erkannte meine Schrift ebenfalls, konnte mir jedoch nicht vorstellen, woher meterweise beschriebenes Papier von mir kommt, weshalb ich erst zweifelte. Doch nach Durchsicht fand ich auch noch ein A5-Heft, auf welchem in Russisch mein Name stand und diverse Karteizettel, die meinen Namen enthielten. Als ich mir die Sachen genauer anschaute, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass mein Vater anscheinend sämtliche Schulhefte aus allen Klassen von mir gesammelt, sie auseinandergenommen und in der Mitte durchgeschnitten hat, damit die Seiten als Karteiblätter in den Karteikasten passen.
Genaugenommen haute mich das so aus den Socken, dass ich immer wieder rief: "Was ist das denn? Das gibt's doch nicht!", denn zum einen ist es mir wirklich ein Rätsel, was er mit diesem Papier wollte und zum anderen, wie er da ran gekommen ist. Es scheint fast so, als hätte er sie aus dem Mülleimer gefischt, wenn ich sie entsorgt habe. Eigentlich ist das meiste darin völlig uninteressant, gerade aus den unteren Klassenstufen, außerdem ist ja alles zu Karteikarten zerschnitten, wenn er einfach nur ein Heft hätte von mir aufheben wollen, wäre es nicht notwendig gewesen, diese kiloweise in Karteikästen zu horten, es ist mir unbegreiflich, was er sich dabei gedacht hat. Merkwürdig daran finde ich auch, dass sich nur Schulhefte von mir finden, aber kein einziges von meinem Bruder.

Meine Mutter wollte wissen, ob ich das Zeug haben will, aber da ich es bisher nicht vermisst habe, werde ich es auch künftig nicht vermissen. Wer kann es sich schon leisten, in einer kleinen Mietwohnung jedes winzige Zipfelchen seines Lebens in einem Archiv zu verwahren (ok, bis auf Marlene Dietrich, aber die hatte dann auch nur noch Platz für das Bett)?
Sollte mir wirklich irgendwann der Physik-Nobelpreis verliehen werden, ist das natürlich ein herber Verlust für meine künftigen Biographen, wenn sie nicht mehr in meinen alten Physikheftern wühlen und nach den ersten Geistesblitzen fahnden können. Aber so ein bißchen geheimnisvolle Aura hat noch nie geschadet....

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