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Die Begeisterung

der Psychologin ist wirklich sehr erfrischend. Als ich ihr von meinen neuesten Erkenntnissen aus dem Dezember berichtete, war sie hin und weg über diese "großartige, wundervolle und einmalige Chance", die sich da vor mir auftue. Nachdem ich ihr einige Sachen aus meiner Kindheit berichtete (und das war noch nicht einmal alles), schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen (und zwar nicht nur metaphorisch) und meinte, ich könne so stolz auf mich sein, daß ich das alles einigermaßen unbeschadet überstanden habe, von meiner Phobie und einigen kleinen Macken mal abgesehen, aber es hätte viel viel schlimmer kommen und ich hätte richtig wahnsinnig werden können. (Tief in mir wußte ich ja schon immer, daß ich ein zähes Huhn bin.) Sie fragte nach den Jahrgängen meiner Eltern und wußte sofort Bescheid: "Oh ja, Kriegskinder. Die haben alle einen Knacks und ein Trauma weg." Und wie sie mir so die Zusammenhänge erklärte, wurde mir das plötzlich sehr verständlich, was da mit meinen Eltern abgelaufen ist. Es gibt ja verschiedene Familienerzählungen bei uns, zum Beispiel, wie die Familie meiner Mutter ausgebombt und sie mit ihrem kleinen Bruder von der Mutter getrennt wurde oder mein Vater in der Hitlerjugend, während sein Vater bei Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Die Psychologin empfahl mir ein Buch über die Kiegsgeneration und erklärte mir, daß ein neues Zeitalter begonnen hätte (für mich anscheinend tatsächlich im Dezember), in welchem eine ganze Generation daran arbeite, alte Wunden, die noch aus vorherigen Generationen stammen, zu heilen. Und auch ich hätte jetzt diese wundervolle Chance und dazu noch die perfekten Lebensumstände, nicht nur meine eigenen Wunden, sondern ebenfalls die der Kriegsgeneration zu heilen (na schönen Dank auch!). In fünf bis zehn Jahren würde ich, da ist sie sich sicher, ein völlig anderes Leben führen. Ich müsse für den Borderliner, der hier bei twoday.net und Twitter sein verletzendes Spiel treibt, kein Verständnis aufbringen, wenn ich nicht könne, selbst dann nicht, bzw. insbesondere, wenn er seine Krankheit und/oder Therapie dazu benutzt, sich der Verantwortung für sein Handeln zu entziehen, statt sich ihr zu stellen, und ich müsse ihm auch nicht dankbar sein, aber ich könne dem Universum dankbar sein, daß es mir so eine wundervolle, großartige und einmalige Chance schickt. So ähnlich sehe ich das auch, wenn auch nicht ganz so ekstatisch, denn es ist schon irgendwie anstrengend. Es fühlt sich an, als würde aus heiterem Himmel ein riesiger Berg aus Arbeit auftauchen und einem die Sicht versperren, während man noch nicht einmal weiß, wo und wie man mit der Arbeit beginnen soll.

Um den Kopf frei zu pusten machte ich hinterher mal wieder einen Spaziergang über den Jüdischen Friedhof und suchte die schwarze Katze, die sich aber nicht blicken ließ. Genau als ich am hintersten Zipfel des Friedhofs war, meldete sich immer stärker ein natürliches menschliches Bedürfnis. Nun ist der Weg bis nach vorne zum Eingang und zur Verwaltung ziemlich weit, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich dort eine Toilette finden würde. Deshalb schaute ich mich schon während des Zurückgehens verstohlen nach etwaigen versteckten Alternativen um, dachte aber bei mir so - 'Du kannst dich doch hier nicht hinter irgendein Familienmausoleum setzen und an das Grab pinkeln! Wenn dich jemand erwischt, dann bist du wegen der Schändung jüdischer Gräber dran!' Doch diese bildliche Vorstellung allein, wie ich so hinter einem dieser prunkvollen Grabmäler hocke, mich plötzlich jemand am Schlawittchen packt und die Polizei alamiert, weil ich jüdische Gräber schände, war auf mich so erheiternd (weil ja auch nur eine Vorstellung), daß ich ab da nur noch zwangsläufig grinsend über den Friedhof lief. Glücklicherweise fand sich tatsächlich eine Friedhofstoilette, so daß ich keine Gräber schnöde entweihen mußte. Allerdings denke ich mir, daß es die Toten wahrscheinlich wenig stören würde. Ich glaube, die wären nur froh, daß sie solche Probleme nicht mehr haben.

Jüdxischer Friedhof 4

Jüdischer Friedhof 3

Jüdischer Friedhof 2

Jüdischer Friedhof  1
Namesi (Gast) - Mi, 15:21

Du scheinst auf einem guten Weg zu sein. Das ist schön. Im Übrigen müssen nicht nur viele Kriegskinder sondern auch viele Soldaten, als sie aus der Gefangenschaft nach Hause kamen, einen psychischen Knacks gehabt haben. Eine ganze Männergeneration, die keine psychische Betreuung zur Traumabewältigung bekam, wie es heute in der Bundeswehr üblich ist. Mein Vater, Jahrgang 1921 war 5 Jahre im Krieg und 3 Jahre in Kriegsgefangenschaft. Meine Mutter, Jahrgang 1925, wurde mit meiner Großmutter und meiner Tante von Stettin nach Steinbach-Hallenberg, einen kleinen Ort im Thüringer Wald evakuiert, wo sie zunächst als fremde Habenichtse angesehen wurden. Das Ergebnis war dann ich.

Die Soldaten sowieso,

aber von denen leben in meiner Familie keine mehr. Von meinem Opa soll es einen schriftlichen Bericht über Stalingrad geben, aber der ist nirgends mehr zu finden, genausowenig wie die Bleistiftskizze des Schlachtfeldes von Stalingrad des vermissten Bruders meiner Großmutter. Anscheinend haben Menschen die Tendenz, unschöne Dinge zu verbummeln.
books and more - Mi, 16:16

Wenn Sie mögen, könnt' ich Ihnen ein paar Bücher zum Kriegskinder- und Enkelthema schicken, brauch' sie gerade nicht.

Mit Grüßen aus dem elterlichen Bombentrichter
B.

Sind

da zufällig die Bücher "Wir Kinder der Kriegskinder" oder "Die vergessene Generation" dabei?
books and more - Fr, 19:06

Sie haben Mail vom Fernleihverbund der Deutschen Privatbibliotheken FLVDP e.V.mbH!

Danke sehr!

Ich habe bereits geantwortet. :-)
Rössle - So, 18:37

Ich frag mich ja oft, was wohl aus uns Menschen werden könnte, wenn nicht so viele Kinder in Familien aufwachsen würden, wo die Eltern in ihrem Leben vorher auch schon einen Knacks abbekommen haben...

Die Welt

würde sicher etwas anders aussehen, aber leider ist ja Kinder bekommen, auch eine besonders gute Methode, um zu verdrängen. ;o)

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