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Samstag, 10. Oktober 2009

Kafka, rein subjektiv

Stets schaudert es mich, wenn ich Kafka lese, doch sobald ich versuche, dem eigentlichen Grund dafür nachzuspüren, verwässert er sich und wird ungreifbar. Es ist etwas in seinen Texten, das mich intuitiv ein Warnsignal empfangen läßt, so wie ein Bauchgefühl einem sagt, daß man diesen Weg besser meiden oder jenem Menschen nicht vertrauen sollte. Auch hier sagt das Signal: Es stimmt etwas nicht. Doch es sind nicht die mysteriösen Handlungen und "kafkaesken" Situationen, denn diese erwarte ich ja, wenn ich Kafka lese. Solch albtraumhaftes Erleben fürchte ich nicht, es fördert nur die Spannung. Da ich Träume liebe, liebe ich auch sie - je absurder, desto besser. Es ist etwas außerhalb der Geschichten, das sich jedoch als unsichtbares Ding über jeden Satz, jedes Wort legt und sich zwischen die Zeilen drängt. Mal umschrieb ich es als Kälte, das Führen der Schreibfeder im Stil eines Pathologen, der Leichen seziert. Dann wieder meinte ich, Kafka hätte seine Texte ausschließlich mit der linken Gehirnhälfte und dem Verstand geschrieben, das Gefühl aber, nein, nicht weggelassen, sondern als Ausgangspunkt für sein Seziermesser benutzt, bis nichts mehr davon übrig ist, außer einer wagen Ahnung, um welche alle Protagonisten und Personen mit emsiger, berechnender Bemühtheit konversieren und aktionieren, während die Ungeheuerlichkeit des Erlebens als etwas Unausgesprochenes im Raume hängen bleibt. Natürlich könnte man annehmen, Kafka hätte dies als Stilmittel benutzt, aber etwas läßt mich daran zweifeln. Ist es wirklich möglich solch eine Distanz und Unerbittlichkeit auf Dauer als Stilmittel aufrechtzuerhalten, ohne mit dieser Art des Erlebens sehr vertraut zu sein? Jede seiner Geschichten könnte man anders, emotionaler erzählen, und sie würde etwas von ihrem Zynismus, ihrem typischen Charakter verlieren, ohne deshalb zerstört zu sein. Doch auch das beschreibt es noch nicht ausreichend. Und heute kam ich endlich darauf, was ich bisher übersehen hatte. Es ist nicht nur Distanz und Unemotionalität, sondern Grausamkeit. Pure Grausamkeit, die sowohl gegen andere als auch gegen sich selbst gerichtet ist, in ganz besonderem Maße gegen sich selbst. Keine Person in seinen Texten wird irgenwie bevorzugt oder empathischer beschrieben als eine andere, auch nicht die, bei denen man Ähnlichkeiten mit dem Verfasser zu bemerken meint. Über allen scheint derselbe Fluch eines herzlosen Schöpfers, in ihrem Falle Autors, zu liegen, der nicht das geringste Mitempfinden zeigt und damit auch das Mitfühlen der Leser auf wirksame Art unterbindet, ohne dabei die Spannung zu verringern. Der Leser wird in den Sog eines kühlen wissenschaftlichen Interesses gezogen, das aus reiner Neugier beobachten will, was mit diesen fremdartigen und doch so vertrauten Geschöpfen in seltsamen Situationen weiter geschieht. Was bleibt, ist ein stetiges Unbehagen, aber ebenfalls ein Lenken aller übrigen Gefühlsreserven auf die vermeintliche Hölle dessen Verursachers.