Ein entzückendes junges Mädchen mit schwärmerischen Augen und seidiger Haut saß eingezwängt zwischen einem alten Priester und einem schmutzigen, vollbärtigen Herrn und verspeiste hingerissen und voller Andacht die Kalbsnieren, die in einer grauen, als Soße dienenden Flüssigkeit schwammen.
(aus "Lourdes" von Emile Zola)
In Wirklichkeit erkennen wir nichts; denn die Wahrheit liegt in der Tiefe.
(Demokrit)
...dies ist ein andrer Punkt bei Übersetzungen, wir werden auf ihn noch kommen: daß auch Übersetzungen, die nicht so gut sind, einem guten Roman im allgemeinen nichts anhaben können; in diesem Genre scheinen, im allgemeinen wenigstens, die Makrostrukturen, also der Rhythmus der Teile, der Wechsel der Figurenkonstellationen, der Tempowechsel und ähnliches, mindestens ebenso bedeutend zu sein wie die Feinstruktur der Sprache. Und man kann einen schlecht übersetzten, aber guten Roman zwar erst nach achtzig Seiten, dann aber sehr gut von einem sprachlich wunderbar anheimelnden, aber eben zweitklassigen einheimischen Roman unterscheiden.
(aus: "Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer" von Rolf Vollmann)
Und am Ende seines kleinen Essays über die Austen sagt er: "...in ihren Büchern passiert nicht besonders viel, aber wenn man am Ende einer Seite angelangt ist, blättert man rasch um, um zu erfahren, was als Nächstes passieren wird. Wieder passiert nicht viel, und wieder blättert man begierig um. Der Schriftsteller, der dies erreicht, besitzt die wertvollste Gabe, die er überhaupt haben kann."
(aus "Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer" von Rolf Vollmann)
Ich habe noch nie einen Schriftsteller kennengelernt, der nicht eitel und nicht egozentrisch gewesen wäre - es sei denn, es war ein besonders schlechter Autor. Die einen tarnen ihre Eitelkeit und verbergen ihre Egozentrik, andere bekennen sich zu diesen Schwächen ostentativ, mit Humor und ohne Pardon.
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
Nach wenigen Augenblicken kam Katia Mann. Sie trug ein dunkelgraues, beinahe bis zum Boden reichendes Kleid. Wie eine gestrenge Domina sah sie aus, wie eine imposante Stiftsvorsteherin. Hans Mayer hatte in der Hand einen großen Blumenstrauß, den ihm aber Frau Mann gar nicht abnehmen wollte. Er wurde von ihr ziemlich barsch angefahren: "Sie haben geschrieben, das Spätwerk meines Mannes bröckele ab." Mayer, immer noch mit den Blumen in der Hand, war verlegen wie ein Schuljunge und stammelte hilflos: "Aber Gnädige Frau, ich bitte, ich bitte höflichst, bedenken zu wollen ..." Katia Mann unterbrach ihn sofort: "Widersprechen Sie mir nicht, Herr Mayer, Sie haben geschrieben, Thomas Manns Spätstil sei ein Abbröckeln. Sie sollten wissen, daß über meinen Mann alljährlich in der ganzen Welt mehr Doktorarbeiten eingereicht und gedruckt werden als über diesen, über diesen Kafka."
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie tatsächlich geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen - so gründlich und so sorgfältig wie möglich -, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
Ähnlich erging es mir mit einem anderen, alles in allem doch wichtigeren Roman von Hesse, dem "Steppenwolf". Ich habe ihn, nicht ganz freiwillig, dreimal gelesen: In den dreißiger Jahren war ich entzückt, in den fünfziger Jahren enttäuscht, in den sechziger Jahren entsetzt.
(aus "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki)
Hm, ich habe das Buch erst einmal gelesen. Ob mir es ebenso ergehen würde? Ausgeschlossen ist das nicht.
Aber Pierre blieb ernst, er war wie erstarrt von dem eisigen Schauer, der ihn überlief. Waren das nicht die verzweifelten Verwünschungen des Lazarus, die er da eben gehört hatte? Oft hatte er sich vorgestellt, daß Lazarus, aus dem Grabe gestiegen, Jesus zugerufen hätte: "O Herr, warum hast du mich wieder zu diesem entsetzlichen Leben erweckt? Ich schlief so schön den ewigen, traumlosen Schlaf, endlich kostete ich die süße Ruhe in den Wonnen des Nichts! Alle Schmerzen und alles Elend habe ich kennengelernt, alle Tücken, alle falschen Hoffnungen, alle Niederlagen und alle Gebrechen; ich hatte mit Leiden die schreckliche Schuld meines Lebens abbezahlt, denn ich kam zur Welt, ohne zu wissen warum, und hatte gelebt und wußte nicht wie; und da läßt du mich doppelt bezahlen, Herr, und verdammst mich dazu, meine Strafzeit noch einmal zu beginnen!... Habe ich denn ein unsühnbares Verbrechen begangen, das Du mit einer so grausamen Züchtigung ahndest? Ach, wiederum leben! Täglich zu fühlen, wie das Fleisch um ein weniges hinstirbt, Geist zu haben, nur um zu zweifeln, Willen zu haben, nur um sein Unvermögen zu sehen, und ein empfindsames Herz, nur um zu weinen über seine Qual! Und das alles war nun endlich vorbei, ich hatte die düstere Pforte des Todes durchschritten, die so furchtbar ist, daß sie schon das ganze Leben vergiftet. Ich hatte gefühlt, wie der Schweiß des Todeskampfes mich näßte, das Blut aus meinen Adern zurückfloß und der Odem im letzten Röcheln entfloh. Und nun willst Du, daß ich all diese Angst zum zweiten Mal leide, daß ich zweimal sterbe und daß meine Qual alles menschliche Elend überragt!... Ach, Herr, mach, daß es gleich vollbracht werde! Ja, ich flehe Dich an, tue noch das zweite große Wunder, lege mich wieder ins Grab, bette mich, ohne zu leiden, wieder in meinen ewigen Schlaf, den niemand stört! Sei gnädig und nimm die Marter eines zweiten Lebens von mir, die furchtbare Qual, zu der Du noch kein Wesen jemals verdammt hast! Ich habe Dich immer geliebt und Dir gedient allezeit, nun mach mich nicht zum Beispiel Deines höchsten Zorns, der alle Geschlechter der Menschen mit Schrecken schlüge. Gib mir den Schlaf zurück, den ich mir wohl verdient habe, sei gütig und mild, o Herr, und schläfere mich abermals ein in die Wonnen Deines Nichts!"
(aus "Lourdes" von Emile Zola)
Auch war das Wasser alles andere als einladend; denn aus Furcht, die aus der Quelle fließende Menge könnte nicht ausreichen, ließen die Patres der Grotte das Wasser in den Bädern nur zweimal am Tag wechseln; und da an die hundert Kranke durch dasselbe Wasser hindurchgingen, kann man sich vorstellen, zu was für einer entsetzlichen Brühe es zuletzt wurde. Da war alles drin, Blutfäden, Hautfetzen, Schorf, Wattestücke, und Verbandslumpen, ein gräßliches Spülwasser aller Krankheiten, aller Wunden, aller Fäulnis. Es war offensichtlich eine wahre Brutstätte giftiger Keime, eine Essenz der fürchterlichsten Ansteckungen, und das Wunder bestand wahrlich darin, daß man lebend aus diesem menschlichen Unrat wieder herauskam.
(aus "Lourdes" von Emile Zola)