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Entdeckung der verlorenen Zeit

Montag, 12. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Auf geheimer Nachbarschaftsmission" heißt - Teil 13

Missmutig klappte ich das Laptop zu und blickte in den schwülstig pinkfarbenen Abendhimmel, der sich inzwischen etwas gelichtet hatte. Dann stand ich auf und tappte in den Flur, um das kleine Kärtchen zu holen, das noch immer auf einem der Bücherstapel lag. Ärgerlich nahm ich das oberste Buch, dessen Umschlag einen noch schwülstigeren, künstlichen Abendhimmel zeigte, sowie eine Frau auf einem Pferd, deren langen roten Haare sich flammend mit dem Sonnenuntergang vereinigten, während ihre vollen, bebenden Lippen vor Speichelfluss glänzten, und drehte es mit der Titelseite nach unten, nicht zu vergessen mit dem Buchrücken zur Wand.
Die Visitenkarte lag angenehm geschmeidig und doch fest in der Hand, eine leichte Prägung im Karton umrahmte die anthrazitfarbenen und schön geschwungenen Lettern:
Robert van der Maydbrink – was für ein Name! In Gold würde er sich ja noch besser machen, aber das hätte ich wohl etwas angeberisch gefunden.

Ich tippte seine Telefonnummer in mein Telefon, doch überlegte ich es mir anders und löschte wieder alles. Bei dieser Gelegenheit löschte ich auch gleich alle anderen Nummern in meinem elektronischen Datenspeicher. Sofort deaktivierte ich ebenfalls die Mailbox und da ich nun schon so weit fortgeschritten war, außerdem die Rufnummernanzeige. Nach dieser Entrümpelungsaktion griff ich mir ein paar saubere Sachen, riss mir den lila Handtuchturban vom Kopf und kleidete mich an. Die Haare schlackerten wie abgeschreckte Spaghetti von meinem Kopf herunter. Wieso haben diese Frauen auf diesen Buchumschlägen eigentlich immer diese fantastischen Haarmähnen?

Nach etlichen Kilo Volumenspray war auch meine Mähne einigermaßen brauchbar. Ich verließ die Wohnung und posierte vor der Tür meines Nachbarn, während ich zweimal klingelte.
Langsam öffnete sich die Tür und Herr Luchterhand schaute mich mit kugelrunden Augen an.
Er trug diesmal nur ein grau-gestreiftes Herrenhemd ohne Weste und einer der Hemdzipfel hing aus dem Bund seiner schwarzen Stoffhose. An seinem Arm, den er an den Türrahmen gelehnt hatte, fiel mir eine goldfarbene Armbanduhr ins Auge.

„Ähm...“ begann ich, „ich war heute im Keller und da ist mir aufgefallen, dass Ihre Kellertür offen steht.“

Er starrte mich weiter an, als hätte er nichts gehört. Aus seiner Wohnung zog der Duft von brutzelnden Bratkartoffeln. Ich fürchtete, dass mein Magen gleich laut knurren würde.

„Ich dachte nur, weil da jeder rein kann. Ich habe gesehen, äh, flüchtig im Vorbeigehen, dass Sie da wohl teurere Werkzeuge aufbewahren.“

Irgendwie hatte ich für einen kurzen Moment den Eindruck, dass er seine Gesichtsfarbe gewechselt hatte, doch als ich genauer hin sah, konnte ich keinen Unterschied entdecken.

„Ach so. Ja, danke.“ wurde er jetzt lebendig. „Das ist nett, dass Sie mich darauf aufmerksam machen. Ich werde gleich hinuntergehen und äh....abschließen.“

„Nichts zu danken. Vielleicht könnte ich mir ja mal das eine oder andere Gerät borgen?“

Ich merkte, dass Herrn Luchterhand das Gespräch sichtlich unangenehm war. Um genauer zu sein: er wand sich wie ein arthritischer Aal, wobei seine grauen Schläfenlocken leise zitterten.

„Für die Renovierung, meine ich. Ich weiß noch nicht, was da alles weiter auf mich zukommt und habe auch nicht viel Ausrüstung zu Hause.“

Er schien etwas erleichtert.

„Ja, kein Problem. Fragen Sie mich einfach.“

Ich merkte, dass er Anstalten machte, das Gespräch zu beenden und schaute interessiert auf das Schwarz-Weiß-Poster, welches halb von seinem Körper verdeckt wurde, und das ich nun als einen alten Stich identifizierte. Das Licht im Hausflur verlöschte mit einem kleinen Surren.

„Ist das nicht das Winterpalais in St. Petersburg?“ fragte ich, wobei ich mit dem Kopf in Richtung des Bildes nickte und gleichzeitig auf den Lichtschalter drückte. „Es gefällt mir.“

„Ja“, antwortete er sofort. „Das ist noch ein altes Poster meiner Freundin.“
Seine Gesichtszüge entspannten sich und wurden weicher.

„Ach? Ich habe ihre Freundin noch nie gesehen. Wohnt sie auch hier?“

„Nicht mehr.“ Während er das sagte, schaute er auf irgendeinen fernen Punkt neben mir.

„Ach nein? Wie schade. Was macht sie denn?“

Noch immer musterte er aufmerksam irgendetwas im schrägem Winkel zu meiner eigenen Erscheinung.

„Sie ist verschwunden.“

„Wie jetzt? Was.....?“

„Sie ist vor zehn Jahren verschwunden und wurde danach nie gefunden.“

„Das reimt sich.“ dachte ich, doch stattdessen sagte ich: „Das tut mir leid.“

„Ja.“ überrascht schaute er mich direkt an und lächelte ein winziges, schiefes Grinsen. „Das ist eine lange Geschichte.“

Er schien sie mir nicht erzählen zu wollen.

Mittwoch, 7. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Schatten der Vergangenheit" heißt - Teil 12

Donner grollte in der Ferne, als ich den Tapetenleim in Wasser anrührte. Nachdenklich starrte ich aus den trüben Fenstern. Zwei Stunden Zeit, bis der Kleister anwendungsbereit ist.
Ich dachte an Robert, ich wusste nicht wieso. Hatte ich nicht andere Probleme? Unmerklich versank ich in einem düster-gleißenden Tagtraum, der glutrotes Feuer in meinen Gedanken hinterließ. Ein heftiger Donnerschlag ließ mich hochschrecken. Das Püppchen auf der Fensterbank zuckte erschrocken auf im Leuchten, welches sekundenlang das Fenster erhellte.
Ich musste lächeln. Hatte es nicht Ähnlichkeit mit Robert? Na ja, Robert schaute nicht so überrascht in die Welt. Und sicherlich hatte er keine Angst vor Gewittern. Oder doch? Was wusste ich eigentlich über ihn? Aber war das nicht egal? Ich hatte noch jede Menge Zeit, alles über ihn herauszufinden. Dieser Gedanke überraschte mich selbst ein wenig, denn ich hatte ihn nicht bewusst gedacht. Anscheinend war in mir schon etwas entschieden, was ich selbst noch nicht wusste. Erst gestern wollte ich ihn nie mehr in meinem ganzen Leben wiedersehen.
Und genau jetzt wäre die Gelegenheit, einen vollkommen entspannten Nachmittag mit ihm zu verbringen. Einfach alles hier stehen und liegen zu lassen und mein Herz zu renovieren.
Ich lachte über den Einfall und glaubte in ihm einen gut bekannten Arbeitsfluchtreflex zu erkennen. Klar, alles war besser, als das, was mir noch bevor stand. Doch je eher ich anfing, um so eher hatte ich es hinter mir. Entschlossen verfügte ich, dass das Püppchen ab heute Robert heißen solle.

Während ich begann, lustlos, aber konzentriert die Wände auszumessen und die Maße auf die Tapetenbahn zu übertragen, bemerkte ich, dass der Fleck auf dem Teppich dunkler geworden war. Vollkommen stoisch nahm ich das zur Kenntnis, denn inzwischen war sowieso sicher, dass auch ein neuer Teppich gebraucht würde. Doch fast nebensächlich dachte ich darüber nach, dass der Fleck eigentlich hätte heller werden müssen, wenn die Feuchtigkeit getrocknet ist. War doch so, oder? Was feucht ist, erscheint dunkler. Müde winkte ich ab. Warum mir über Physik den Kopf zerbrechen - Fleck bleibt Fleck.

Nachdem ich genügend Tapetenbahnen zugeschnitten hatte, war es endlich soweit, mit dem Kleben zu beginnen. Gut eingekleistert und eingeweicht wickelte ich die Raufaserbahnen um meine Finger und pappte sie elegant von der Deckenkante bis hinab zur Scheuerleiste an die Wand. Mit einer festen Bürste zog ich nach, bis jede Kante akkurat saß. Und vollkommen beschmiert und beschmaddert begutachtete ich schließlich das Ergebnis. Für heute hatte ich genug. Das musste nun erst mal trocknen.

Ich beseitigte die Überreste meiner Kleisterschlacht und genehmigte mir eine heiße Dusche.
Grünteeduftend in einen kuscheligen Bademantel gehüllt, machte ich es mir gleich darauf in der Küche bequem, wo mein Notebook schon auf mich wartete. Vorsichtig nippte ich ein bisschen am heißen Kakao, begann einen neuen Streifzug durch die Blogosphäre.
Doch was war das? Ich musste zweimal hinschauen, denn ich wollte es nicht glauben. Einer meiner Lieblingsblogs fehlte. War im endlosen Datennirwana verschwunden. Nur eine höhnische Startseite glotzte mich an. "Wie scheußlich!" sage ich zu mir selbst, "Ich sollte wieder anfangen täglich Zeitung zu lesen statt Blogs. Die verschwinden wenigstens nicht plötzlich, wenn man sich an sie gewöhnt hat."

Dienstag, 6. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Schatten der Vergangenheit" heißt - Teil 11

Ich hatte mich noch nicht ganz vom Schrecken des gestrigen Tages erholt, da kam ich nach mehrmaligem Überdenken zu dem Ergebnis, dass es wohl am besten wäre, alles zu vergessen.
Gedankenversunken knabberte ich an meiner Pizza Capricciosa, die der Pizzabote vor zehn Minuten anstatt eines Frühstücks gebracht hatte. Natürlich war diese russische Stimme, die ich gehört hatte, schon etwas seltsam, doch wer weiß, vielleicht war es ja nur ein Handwerker, der etwas im Keller zu tun hatte. Mein Nachbar wohl kaum, denn der sprach reines Deutsch. Wahrscheinlich hatte ich mich nur in irgendwas reingesteigert. Nachdenklich wiegte ich den Kopf und kaute auf einer Olive. Aber....wenn der Keller nun zum Beispiel Treffpunkt der Russenmafia war? Mit denen wollte ich nichts zu tun haben. Es half alles nichts, wenn ich meinen Müll loswerden wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder nach unten zu begeben. Einmal um den ganzen Häuserblock wollte ich ihn nicht tragen. Ich seufzte und griff nach der Bildzeitung, welche mir der Pizzabote mit dem Pizzakarton überreicht hatte.
‚Ich war JFK!’ prangte als riesige Überschrift auf der Titelseite – ‚Die Bekenntnis eines früheren Lebens’. So ein Quark. Schnell blätterte ich weiter. Einige Seiten darauf erregte ein kurzer Artikel meine Aufmerksamkeit.
‚Wrack des Kanonenboots Wasilissa vor der russischen Baltikküste gefunden’,
die Unterwasserarchäologen sind zur Zeit mit der Kartierung, Inspektion und Inventarisierung beschäftigt, las ich. Es konnten einige, noch verkorkte Weinflaschen, sowie alte Kanonkugeln geborgen werden. Gleichzeitig hatte man nur wenige Meter vom Wrack entfernt einen abgestürzten Flieger aus dem zweiten Weltkrieg entdeckt, welcher fast vollständig von Schlick begraben, allen Ortungsversuchen zuvor widerstanden hatte.
Ich erfuhr außerdem, dass die Ostsee das wrackhaltigste Meer der Erde ist und die meisten Wracks vor der felsigen Küste Rügens liegen.

Interessant. Wer weiß, was dort noch alles so auf dem Meeresgrund schlummert. Ob der Wein wohl genießbar ist? Gesättigt leckte ich einen Streifen Soße von meinem Daumen.
Der Himmel wölkte grau hinter den Gardinen und der ersten Streifen Regen klatschte gegen die Fensterscheibe.
Ich packte den zweiten Müllsack und beeilte mich, hinunterzukommen, bevor das Unwetter richtig loslegen würde. Vor der Stahltür mit dem symbolischen Knochengesicht erfüllten mich neuerlich bange Gedanken, doch ich gab mir einen innerlichen Tritt. Der Lichtschalter klickte und die Funzel sprang surrend an. Ich durchquerte den Kellergang, bis zu der Stelle, wo die weiße Mülltüte leuchtete, welche ich in meiner Panik hatte hier stehen lassen. Sie war geöffnet und anscheinend durchwühlt worden, denn der sandige Putz war ringsumher auf dem Kellerboden verteilt. Fast nur nebenbei bemerkte ich, wie meine Furcht einer unmerklichen Wut wich. Ich verstand das alles nicht und ich wollte es auch nicht verstehen. Es hatte beinahe den Anschein, als würde jemand hinter mir her spionieren und der einzige, der mir dazu einfiel, war der liebe Herr Luchterhand. Allerdings fragte ich mich, was er in meinen Bauabfällen zu finden hoffte.

Zähneknirschend raffte ich den Plastiksack zusammen und beförderte ihn ebenso wie den zweiten in die Mülltonne. Als ich in den Keller zurückkehrte und die Hoftür wieder abschloss, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass die grobe Brettertür zum Kellerverschlag meines Nachbarn, welcher sich gleich daneben befand, ein kleines Stückchen offen stand. Das Vorhängeschloss baumelte lose in der Lasche. Da ich nichts hörte, schob ich die Tür vorsichtig einige Zentimeter weiter auf und als ich erspäht hatte, dass weit und breit keine Person zu sehen war, trat ich zwei Schritte in den Verschlag hinein, der nur von einem winzigen, vergitterten Kellerfenster erhellt wurde. Graues Regenlicht fiel auf ein Regal, in welchem leere Flaschen und Gläser, sowie einige verstaubte Kisten lagerten. Spinnweben baumelten wie surreale Schleier von der Decke herunter. Neben meinen Füßen entdeckte ich eine Schale mit rotkörnigem Rattengift. Das Licht reichte nicht in die hinteren Ecken hinein, doch ich erkannte die Umrisse einiger alter Möbel, die dort gestapelt waren. Und im Zwielicht zwischen Schwarz und Grau fielen mir ein paar Geräte auf, die entweder unordentlich auf einer riesigen Holzkiste lagen oder an der Wand hingen.

Dunkel erinnerte ich mich, einige dieser Werkzeuge im Baumarkt gesehen zu haben. Jedoch längst nicht alle. Brechstangen zum Beispiel kannte ich bisher nur aus Krimis, die im Fernsehen liefen. So einen Schneidbrenner aber, ich vermutete, dass es einer war, hatte ich auch schon in der Werkzeugabteilung gesichtet. Ein drittes Gerät hielt ich für einen Glasschneider. Doch was wollte Herr Luchterhand damit? Grübelnd und noch verwirrter als vorher zog ich mich diskret zurück. Die Kellertür ließ ich leise angelehnt.

Freitag, 2. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Die Meuterei auf der Sturmvogel" heißt - Teil 10

Ferdinand der Seebeuter stand auf dem Ausguck des „Sturmvogel“ und beobachtete aufmerksam den schmalen Küstenstreifen, auf welchem Sankt Petersburg, noch friedlich schlummernd, am Finnischen Meerbusen ruhte, und welcher nun südlich von ihm unter einer dünnen Dunstschicht verschwand. Sein blassrotes Haar, dass zu einem unordentlichen Zopf gebunden war, wirbelte zerzaust im Wind. Ihm war kalt, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. Normalerweise kreuzte er lieber in südlichen Gefilden, doch der Tipp, den er letztens bei einem Saufgelage in Marrakesch bekommen hatte, erschien ihm sicher. Er hatte seinen Plan der Mannschaft schmackhaft machen können und nun lagen sie hier mitten im eisigen Atem der Ostsee vor Anker. Eine Woche warteten sie schon darauf, dass sich irgendetwas tat, doch bis auf einige uninteressante, abgetakelte Fregatten und sturmhohe Wellen hatten sie noch nichts gesichtet.
Ketten-Hannes, den man so nannte, weil er im Kampf schwere Eisenketten statt der üblichen Stichwaffen bevorzugte, brüllte vom Deck des Schiffes gegen das tobende Meer an, wobei er geschickt einem vom heftigen Wind losgerissenen Tau auswich, welches sich mit blitzschnellem Antrieb auf ihn zu bewegte.
„Wat is?“

Während er das schrie konnte man erkennen, dass er dem Meer und der Skorbut schon etliche seiner Kauwerkzeuge geopfert hatte.
„Nichts!“ antwortete Ferdinand.

„Meister, jetzt hocken wir schon seit Ewigkeiten in dieser nordischen Eishölle. Vielleicht war das alles doch nur eine Ente. Ich will mir endlich wieder nen Sonnenbrand auf der Glatze holen und von einem hübschen Mädchen kühl pusten lassen.“
„Laß uns noch warten.“
Ferdinand wusste nicht, wie lange er seine Männer weiter hinhalten konnte, aber er war sich sicher, dass er recht behalten würde.

„Scheiß auf das Zarengold! Wir finden auch woanders genug Beute!“

„Halt’ Maul!“ fuhr ihn Ferdinand scharf an, „ich sage, wir warten!“

Im Hintergrund hörte er andere Männer seiner Mannschaft murren, die das Gespräch verfolgt hatten.

„Hier! Trink!“ rief Ferdinand versöhnlich und warf eine Buddel Rum schwungvoll genau in Ketten-Hannes Arme hinunter. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und es schien, als hätte er den Disput vergessen.

Dafür trat ein anderer, sehr viel jüngerer Mann heran, der schmächtig und kraftlos wirkte, dessen arrogante Körperhaltung gepaart mit wachsam blickenden Augen jedoch jede Menge Ehrgeiz verriet.

„Käpt’n, Hannes hat recht! Wir können hier noch ewig rumhängen und dabei erfrieren, ersaufen, verhungern oder verdursten – es wird kein Schiff kommen.“
Bedächtig wendete sich Ferdinand zu dem jungen Freibeuter, bedächtig und langsam kletterte er auf das Deck hinunter. Dann trat er dicht vor Wilfrid Zeew, der ihn misstrauisch beobachtete und sagte so ruhig wie es ihm inmitten des tosenden Meeres möglich war und ohne seinem Blick auszuweichen:

„Ich sage – es wird kommen! Und ich bin der Kapitän, wie du richtig bemerkt hast!“

Spontan begannen die Männer der Mannschaft, die dabei zugegen waren, laut „ Ein Schiff wird kommen“ zu grölen, einen Schlager, der erst mehrere Jahrhunderte später bekannt und beliebt werden sollte, wobei sie sich unterhakten, ausgelassen schunkelten und anmutig ihre Beine im Takt hoben.

„Ruhe, verdammt!“ schrie der berühmte Kapitän, „Wollt ihr mich verarschen?“

„Jaaaa!“ hörte er eine vorwitzige Stimme.

Ich sollte endlich mal wieder jemanden kielholen lassen, längsseits, dachte er grimmig und seine meergrauen Augen blitzten kalt. Die Besatzung wurde zu aufmüpfig. Aber er war sich auch darüber im Klaren, dass er jeden von ihnen brauchte, wenn er seinen Plan erfolgreich durchführen wollte. So ein Schiff konnte er nicht alleine kapern.

„Hört mal zu Leute. Ich verspreche euch, nur eine Woche noch. Wenn bis dahin nichts passiert ist, dann segeln wir wieder südwärts.“

Die Männer antworteten nicht, doch er sah einige zustimmend nicken. Na also! Ein kleiner Aufschub war besser als gar keiner.

Mittwoch, 31. Mai 2006

Die Geschichte, die NICHT "Russisch in der Dunkelheit" heißt - Teil 9

Ich schloss gerade die Tür hinter meinem männlich-cool die Treppe hinabspazierenden Besucher, der seine Lederjacke lässig über die Schulter geworfen hatte und auf dem tiefer gelegenen Absatz noch einmal hochschaute, um mir zuzulächeln, als ich bemerkte, dass die Tür der Nachbarwohnung einen schmalen Spalt offen stand.
Den Kopf erneut in den Hausflur gestreckt spähte ich angestrengt hinüber. Sofort wurde der Spalt leise geschlossen. Spionierte mein Nachbar mir hinterher?

Lustlos machte ich mich an die Arbeit, die Putz- und Staubberge in Mülltüten zu schaufeln, in welche ich außerdem ganz oben die verstaubten Abdeckfolien stopfte.
Nachdem die Fußbodenfolien weg waren, musste ich zu meinem Ärger bemerken, dass der schmierige schwarze Staub an einer kleinen Stelle durch die Folie hindurch auf den elfenbeinfarbenen Teppich gewandert war. Ein kleiner Riss vermutlich. Ich ließ alles stehen und liegen, zerrte den Bodenstaubsauger fluchend über die Zimmerschwelle und brachte ihn mit ein paar gezielten Tritten in Position.
Doch selbst als ich den Saugaufsatz abmontierte und mit dem puren Gebläse arbeitete, wollte der Fleck nicht verschwinden. "So ein Mist! Verdammte Sch...... noch mal!“ schimpfte ich wütend und rubbelte mit Papiertaschentüchern, Schwämmen und Handbürsten daran herum, was dem Fleck aber nichts anzuhaben schien. Das Schwarz hatte sich mit dem Elfenbein zu einem schmutzigen Grau vermischt, welches mich als scheußlicher Schandfleck sofort ansprang, wenn ich einen Blick auf den Fußboden warf. Ich beschloss, dass ich außer zu Renovieren auch noch genau so gut einen neuen Teppich verlegen könne. Doch vorerst waren das Weißen der Decke und das Tapezieren fällig. Zum Glück hatte ich mir die nächsten Tage freigenommen.

Schwitzend bugsierte ich den ersten Müllsack (wie konnte ein bisschen Staub und Sand so schwer sein?) vier Treppen nach unten und überwand zusätzlich eine Kellertreppe, bevor ich vor der schweren Stahltür mit dem riesigen grinsenden Totenkopf (wer hatte den da eigentlich aufgemalt?) halt machte und verschnaufte. Ich hätte die Warnung nicht in den Wind schlagen sollen. Doch noch ahnte ich nichts von dem Grauen, welches mich in den düsteren Katakomben des Hauses erwarten würde. Mit einem leichten, mir um den Nacken streichenden Unbehagen betrat ich den spärlich beleuchteten Keller. Es roch nach Rattenfäule und Moder, süßlich.
Aus allen Richtungen gähnen mich die schwarzen Löcher der endlosen Gänge an, in die das trübe Licht der kleinen Wandfunzeln nicht hineinreicht. Vorsichtig weitergehend versuche ich angestrengt etwas in ihnen zu erkennen. Sehr fern von mir ist ein feines Rascheln zu vernehmen. Schritte. Angespannt bleibe ich stehen und lausche. Doch die Dunkelheit scheint nun jedes Geräusch in ihrem schwarzen Schlund verschluckt zu haben. Plötzlich höre ich Worte in einer fremden Sprache. Es ist Russisch, erkenne ich. Dumpf und grollend dringen die Sätze seltsam monoton an mein Ohr, eine Männerstimme. Sie klingt irgendwie verzerrt und unheimlich. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Mein Herz beginnt lauter zu klopfen. Zu laut wie ich finde. Ängstlich spähe ich in die verwinkelten Durchgänge um mich her.

Einige Meter weiter, bei einer Abbiegung, beginnt das Licht auf einmal zu flackern. Ein kurzes Summen ertönt und es erlischt. Erstarrt bleibe ich stehen, versuche meine Augen an die plötzliche undurchdringliche Finsternis zu gewöhnen. Lausche furchtsam hinein. Nur noch der eigene Atem dringt an mein Ohr. Die Stimme ist verstummt. Taste mich mit den Fingerspitzen zur Wand. Loser Mörtel rieselt herab. Die unverputzten Steine schmeicheln sich rauh und scharfkantig in meine Hand.

Ich erreiche den Lichtschalter. Er funktioniert nicht. Langsam schiebe ich mich Schritt für Schritt an der Wand entlangtastend den Gang voran. Es erscheint mir irgendwann, als habe ich die Richtung verloren. Endlos ziehen sich die Mauern mit ihren Vorsprüngen, Holzverschlägen, Lüftungsgittern und Eisenklappen hin. Im Dunkeln herumirrend pralle ich gegen etwas großes und weiches, springe erschrocken zurück. Unwillkürlich treten Schweißtropfen auf meine Stirn. "Hallo?“ rufe ich fiebsig und bin nicht sicher, ob ich eine Antwort darauf bekommen möchte.

Panisch taste ich mich zurück zum nächsten Durchgang, nicht mehr auf die Wände achtend, an denen ich mich immer wieder schmerzhaft schramme. Grober Mörtelstaub fällt in die Ärmel meiner Jacke auf die nackte Haut meiner Unterarme. Die Hände brennen voller Splitter von den groben Holzverschlägen, doch ich merke es kaum. Etwas bewegt sich in meinem Haar. Ich eile durch die finsteren Gänge, suche nach einem Ausgang. Mir ist, als hörte ich Schritte hinter mir, als würde mir jemand folgen. Blind und angstvoll stolpere ich weiter in irgendeine Richtung. Ein blasser Lichtstrahl zwängt sich trostbringend durch einen Türspalt. Ich fliehe ihm entgegen und so erreichte ich endlich wieder die Stahltür mit dem Totenschädel, das Tor zur Unterwelt. Doch obwohl diese sonst immer offen stand, war sie nun anscheinend fest verschlossen, denn ich bekam sie nicht auf, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen warf.

Hastig suchte ich nach dem Kellerschlüssel in meiner Jackentasche und spürte, wie sich meine Panik steigerte, als ich unter mir, aus einem der verwinkelten Gänge erneut Schritte hörte. Ich nahm alles nur noch seltsam entfernt wahr und glaubte in einem Albtraum zu sein, aus dem ich jeden Moment erwachen würde. Zittrig probierte ich jeden Schlüssel an meinem Schlüsselbund durch, doch keiner passte. Zufällig kam ich dabei gegen den Lichtschalter und zu meiner Verwunderung funktionierte er wieder. Schnell drückte ich mich in einen der Gänge, der von den Schritten weg führte und fand einen zweiten Ausgang zum Hof.
Erleichtert atmete ich auf, als sich mein Schlüssel mit Leichtigkeit in das Schloss senkte und es mit einem leisen Quietschen öffnete.

In meinen Zebraleggins hetzte ich einmal um den ganzen Block und achtete kaum auf die amüsierten Blicke der Leute, die mir grinsend hinterher schauten. Dann erreichte ich den Hausflur von der Straßenseite aus. Den Müllsack hatte ich im dunklen Keller vergessen, doch nichts würde mich jetzt wieder da hinunter bringen. Als ich in der dritten Etage war, hörte ich, wie jemand die Kellertüre zuschlug und die Stufen hinaufkam.

Schnell hastete ich noch das letzte Stückchen bis zu meiner Wohnung und versteckte mich dort, wobei ich mich hinter dem in die Tür eingelassenen Spion positionierte. Und – irgendwie hatte ich es geahnt - , mein Nachbar Herr Luchterhand, so hieß er nämlich, erschien vor meinem unsichtbaren Auge und betrat seinen Korridor. Das einzige, was ich erhaschen konnte, war ein kurzer Blick auf eine buchefarbene Kommode, über welcher ein Schwarz-Weiß-Poster prangte.

Sonntag, 28. Mai 2006

Die Geschichte, die NICHT "Oswald - Die Terrorpuppe" heißt - Teil 8

Von den peinlichen Gedanken an meinen letzten Fettnäpfchenfehltritt, oder genauer gesagt Sahnecremenäpfchenfehltritt, wurde ich durch einen Blick auf die zerfetzte Wand mir gegenüber abgelenkt. Wie ein schwarzes, gesichtsloses Auge beobachtete mich der freigelegte Hohlraum, und dies ist nicht nur eine simple Metapher zur Hebung des künstlerischen Niveaus dieser Geschichte, oh nein, ich fühlte mich tatsächlich auf unbestimmte Weise beobachtet, sobald ich die Wand betrachtete.

Endlich entschloss ich mich aus dem Bett zu klettern, stolperte über eine leere Coladose, die auf dem Fußboden herumrollte (wie die dorthin gekommen ist, war mir ein Rätsel) und griff noch in Unterwäsche, die aus nichts weiter bestand als einem hellblauen Slip, nach dem Hammer, der in einer Ecke lag. Mit einigen geschicktem Schlägen gelang es mir, die Ränder des Loches um einige Zentimeter zu erweitern. Dann nahm ich den Schraubenzieher und schob das, was sich darin befand, mit der Spitze hin zur Öffnung. Es verhakte sich einige Male, doch schließlich, nach geduldigem Fischen, wurde ein kleines Bein sichtbar. Ich vergaß fast zu atmen vor Erstaunen, denn das, was hier das Licht der Welt erblickte, war eine kleine Puppe, kaum größer als zehn Zentimeter. Sie, besser gesagt er, wie ich aus Kleidung und Haarschnitt ableitete, schien mindestens ebenso erstaunt zu sein wie ich, denn er blickte mich mit einem geradezu komisch wirkendem, entsetzten Ausdruck an.
„Ich fasse es nicht. Da hat doch tatsächlich jemand eine Puppe versteckt.“ Fassungslos schüttelte ich mit dem Kopf. „Nein so was. Bei einem Sparstrumpf könnte ich das ja noch verstehen, aber eine Puppe!“ So führte ich noch eine Weile meine Selbstgespräche fort, setzte das Püppchen auf die Fensterbank und genehmigte mir statt eines Frühstücks ein Glas Grapefruitsaft, welchen ich trank und dabei das kleine Ding neben meinem Orchideentopf unaufhörlich anstarrte.

Zufällig bemerkte ich, dass meine Fußsohlen schwarz waren. Ich hatte zwar gestern den herabgefallenen Putz notdürftig zu einem wie mir schien riesigen Haufen zusammengefegt, doch der schmierige schwarze Staub klebte überall auf der Folie und nun an meinen Füßen.
Ich sprang deshalb unter die Dusche, was nicht nur meinen Füßen gut tat, und machte mich mit neuer Energie an die Arbeit. Dieser Mann, Robert hieß er, war völlig vergessen.

Zuerst pinselte ich eine Flasche Tiefengrund auf den sandigen Putz, welche ich hellsichtigerweise ebenfalls gekauft hatte, und als dieser getrocknet war, plünderte ich meine Spachtelpulvervorräte, welche ich in einer großen Schüssel mit Hilfe eines traditionell dekorierten polnischen Volkskunst-Kochlöffels anrührte. Eine Glättkelle war auch zur Hand und nach mehreren Stunden emsigen Rührens und Spachtelns, waren die Ziegelsteine unter einer glatten Füllschicht verschwunden. Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis und klaubte einige Klumpen der hellen Masse aus meinen Haaren und von meinem Gesicht, da klopfte jemand an die Tür. „Himmel! Das wird doch nicht wieder mein Nachbar sein?“ betete ich, aber es kam viel schlimmer – es war Robert.
„Hi!“ grinste er und seine Grübchen sprangen mich an, während ich versuchte ruhig zu bleiben und nicht urplötzlich zu sterben.
„Wollte mal schauen, ob du gut angekommen bist und ob es dir gut geht.“

„Danke.“ erwiderte ich zerstreut, damit bemüht, meine bekleckerten Ringelleggings und das verschwitzte Unterhemd mit Würde zu tragen. Dann erst fiel mir auf, dass er immer noch vor der Tür stand und keine Anstalten machte, wieder zu gehen. Also bat ich ihn herein.
Ich merkte, wie sein Schritt kurz stockte, als er das Zimmer betrat. Eine Sekunde für ihn, eine Ewigkeit für mich, und da ich ihm nicht anbieten wollte, auf meinem zerwühlten Bett Platz zu nehmen, standen wir beide etwas verloren in der Gegend rum. Licht fiel in breiten Streifen durch das Fenster, kleine Staubflöckchen tanzten emphatisch zwischen uns in der Luft. Alle Möbel waren noch beiseite gerückt und abgedeckt.

„Hm, sieht nach Arbeit aus.“ bemerkte er scharfsinnig.

„Genau!“ antwortete ich.

„Komme ich ungelegen?“

Dämliche Frage. Die konnte er sich wohl selbst beantworten. Doch ich riss mich zusammen und erzählte schnell, was ich mit dem Zimmer vor hatte, ohne auf seine Frage einzugehen.
Dann wusste ich vor Verlegenheit nicht mehr, was ich sagen sollte und griff schnell nach der kleinen Puppe.

„Schau mal. Die habe ich in einem Ziegelstein gefunden. Ist das nicht komisch?“

Er schien weder etwas Komisches noch sonst etwas Interessantes daran zu finden, ja, ich hatte sogar den Eindruck, dass er mir gar nicht zuhörte. Wahrscheinlich hatte er sich seinen Besuch bei mir irgendwie anders vorgestellt.

„Kann man dich auch mal treffen, ohne dass du gerade blau oder beschäftigt bist?“

Dieser leise Spott in seiner Stimme gefiel mir überhaupt nicht, um es gelinde auszudrücken.
Er hätte sich ja wenigstens an seine gestrige elegantere Umschreibung erinnern können. In mir begann es zu brodeln.

„Du hast mich doch gerade erst zweimal getroffen.“ antwortete ich trocken.

„Ja, eben. Und ich würde es gerne wieder. Ich finde dich sehr nett und ich hätte Lust, mal wirklich einen ganz entspannten Nachmittag mit dir zu verbringen, ganz ohne Stress.“

Toll! Als trächtiges Zebra fand er mich also nur noch nett. Ich seufzte. Er machte einige Schritte zur Tür und trat gegen die Cola-Dose (warum lag die eigentlich immer noch da?), dann zog er ein kleines Kärtchen aus der Jackentasche.

„Hier, meine Telefonnummer. Und auch wenn du nicht anrufen solltest, melde ich mich bestimmt wieder.“ Spitzbübig grinsend platzierte er sie auf einem der Bücherstapel im Flur und drehte neugierig das obere Buch um. Es war „Die Glut der Leidenschaft“. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

Mittwoch, 24. Mai 2006

Die Geschichte, die NICHT "Das Sahnecremetortenmassaker" heißt - Teil 7

Ich schlich die vielen Treppen hinauf, zumindest bemühte ich mich zu schleichen, und als ich meine Wohnungstür aufschloß, hörte ich ein Geräusch, das eine Etage höher vom Dachboden kam. Verwundert schaute ich den dunklen Treppenschacht hinauf, in welchem sich die Stufen im schwammigen Funzellicht verloren. Kurz meinte ich das Gesicht meines Nachbarn über der Treppenbrüstung zu sehen, doch sofort war es wieder verschwunden.
"Hallo?" rief ich und erhielt keine Antwort. Für ein Versteckspiel war ich einfach zu müde, weshalb ich, schulterzuckend, in meine Wohnung trat und fast augenblicklich in das nicht gemachte Bett fiel, welches ich in eine andere Ecke des Zimmers geschoben hatte, bevor ich mit der Renovierung begann.

Das erste, was ich am nächsten Morgen bemerkte, war das pelzige Gefühl auf meiner Zunge. Minuten später meldete sich auch ein dumpf ziehender Schmerz in der Schläfengegend.
In mir wuchs eine Ahnung, dass es da etwas in letzten Nacht gewesen war, das ich besser nicht wissen wollte. Doch kaum hatte ich das gedacht, kam schlagartig die Erinnerung wieder und meine einzige Leserin wird sich sicher vorstellen können, wie ich mich fühlte, als ich mir die Vorkommnisse im silberfarbenen Audi durch den Kopf gehen ließ. Ich kam mir vor wie eine Idiotin.

Noch tiefer vergrub ich mich unter meiner Bettdecke um zu vergessen, doch selbst in diesem finsteren Versteck stöberte mich der feindlichste aller Kritiker auf, um mich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen.
Was mußte er nur von mir denken? Wie hatte ich mich nur benommen? Welch ein Glück, dass ich ihm nicht noch Auto vollgekotzt hatte. Oder hatte ich? Nein, bestimmt nicht. Ich war zwar wirklich ziemlich beschwipst letzte Nacht, wie er es milde nannte, aber so sehr nun auch wieder nicht. Doch das war mir nur ein schwacher Trost. Ich hoffte inständig, ihn nie mehr in meinem ganzen Leben wiedersehen zu müssen.

Montag, 22. Mai 2006

Die Geschichte, die NICHT "Das Sahnecremetortenmassaker" heißt - Teil 6

Wie aus Versehen strich ich über seinen ärmellosen, muskulösen Unterarm, streifte seinen Nacken mit meinen Fingern, spürte die feinen Härchen seines Haaransatzes, ließ meinen Zeigefinger die Linie seines Halses hinuntergleiten – im Autoradio stampfte gerade der hypermoderne Goa-Beat eines Ravesamplers und ich war mir nicht sicher, ob es entweder der Technoremix oder aber mein Herz auf mehr Beats per minute brachte -, und schon sah ich mich meine Hand unter sein jeansfarbenes T-Shirt schieben, das so herrlich auf seiner jugendlichen Haut leuchtete. Er fing sie auf und hielt sie fest, wobei er breit lächelte. Warum waren mir diese faszinierenden Grübchen um seinen Mund noch nicht aufgefallen? Wie hypnotisiert starrte ich sie an.
"Du bist süß, wenn du beschwipst bist.“ Wie? Was? Hatte er gerade was gesagt? Ich bin beschwipst? Was soll das schon wieder heißen? Bin ich nur süß, wenn ich beschwipst bin? Und überhaupt, was soll das bedeuten "Du bist süß.“? Süß wie eine Kremtorte - Kremtörtchen. Zuckerguss, Mandelmarzipan, Amarena-Kirsche, Cremesahneschlag......Schlagsahneschlag.......Schlagcremesahne.........

"Ich kann nichts.....nichts................dafür. So.....viel Kremtorte.................“ murmelte ich. Dann schlummerte ich auch schon im Autositz ein.

Wir fuhren und fuhren. Über dunkle Landstraßen, menschenleere Straßen, vorbei an kleinen Dörfern und hellerleuchteten Fabriken, vorbei an drohend aufragenden Windrädern und fernen Kirchtürmen. Die Fahrbahnmarkierung hatte Füße. Kleine, winzige Füße, die sich wie die Beinchen eines Tausendfüßlers unermüdlich fortbewegten, um neben mir Schritt zu halten. Füße.....Laufen....Die Bäume können nicht laufen. Stumm und traurig schauen sie mir aus der Dunkelheit hinterher. Etwas Schwarzes steht auf dem Weg und zwei weiße Stoßzähne wölben sich in die Nacht. Ein Mammut! Zwei kleine Augen blicken mich unverwandt an. Es macht keine Anstrengungen, sich von der Stelle zu bewegen. Ich greife nach dem Speer in meinem Köcher und schwinge ihn drohend über meinen Kopf. Weiße Sichelmonde in der Nacht. Sie blinzeln und ich steche zu. Sahnecreme spritzt aus der Wunde und aus dem Nüstern des Mammuts. In Sahnecreme verendet es.

"Kremtorte......“ nuschelte ich, dann merkte ich, wie mich jemand an der Schulter packte und schüttelte.
"Wir sind da!“
Gerade fünfzehn Minuten hatte er gebraucht, um sich mit dem Wagen vor mein Haus zu stellen und zu fragen, ob ich es alleine bis in die Wohnung schaffe.
Hätte er gefragt, ob er noch auf einen Kaffee mit hochkommen darf, den ich zwar generell nie zu Hause habe, was aber den Frager und mich selten stört, ja dann.......
Aber so, "ob ich es alleine schaffe“......pffff. Was besseres fällt dem wohl nicht ein. Stolz erhobenen Hauptes stakste ich davon.

Freitag, 19. Mai 2006

Die Geschichte, die NICHT "Freibeuter des Herzens" heißt - Teil 5

„Ich bin Robert.“ stellte er sich vor.

Nachdem ich ebenfalls meinen Namen genannt hatte, wagte ich sogleich einen invasiven Vorstoß, indem ich fragte: „Und warum habt ihr euch getrennt?“, womit ich ihm außerdem subtil zu verstehen geben wollte, dass ich schon einiges über ihn wusste, damit er nicht auf die Idee käme, mir irgendetwas Falsches zu erzählen.

„Wir haben uns auseinandergelebt.“ antwortete er stereotyp und setzte hinzu: „Und es gab Konflikte wegen des Erbes.“ Seine unwirklich blauen Augen huschten verlegen umher.

Das interessierte mich nun in der Tat brennend. Was für Konflikte konnte es da wohl geben? Ich wusste, dass Großonkel Albert 97 Jahre alt war. Betraf es die Taubeninsel und den Grundbesitz? Doch direkt danach zu fragen erschien mir etwas zu unhöflich, weshalb ich mich, nicht ohne Anstrengung, zurückhielt.
Langsam merkte ich, wie mir die Müdigkeit in alle Glieder kroch, und noch ehe ich selbst diesen Gedanken denken konnte, fragte er mich, ob ich gehen wolle und er mich vielleicht nach Hause bringen dürfe.

Wir schlenderten in das Wohnzimmer zurück, um uns zu verabschieden. Onkel Gustav fummelte gerade unter dem Pulli an Tante Bärbel’s BH und auch bei den anderen schien die Stimmung noch immer ungebrochen gut zu sein, wenn man sie so zu den Polkaklängen von „In Rixdorf ist Musike“ in einer Polonaise um den Tisch herumkriechen sah. Irgendwie war ich ganz froh darüber, dem Anblick einer Rentner-Gruppensex-Orgie zu entkommen.

Inzwischen war es Nacht geworden. Ein atemberaubender Sternenhimmel hatte sich über die dunklen Dächer gebreitet und der warme Frühlingswind strich wie ein sanftes Kätzchen um meine Beine. Genau die richtige Kulisse für ein filmreifes Tete a tete, das unvergesslich bleiben würde, dachte ich. Doch leider hatte ich die Rechnung ohne seinen Wagen gemacht, dem er schnurstracks entgegenstrebte, ohne dabei aufzuhören mich zu stützen, als wäre ich selbst schon altersschwach oder als würde ich zumindest unter gefährlichen Gleichgewichtsstörungen leiden. Das konnte unmöglich der Fall sein, aber ich sagte nichts und ließ mich widerstandslos zum silbermetallicfarbenen Audi führen. Also wurde doch nichts aus der Romantik unter sternenklarem Himmel, mit verbummelten Schritten und ebenso verbummelten Worten. Leise verfluchte ich mal wieder den technischen Fortschritt, der mit seiner sich fortwährend steigernden Schnelligkeit jedwede romantische Augenblicke zerstörte, mal ganz abgesehen davon, dass ich auch wenig Lust verspürte, in mein Katastrophengebiet zurückzukehren. Sollte ich ihn fragen, ob ich mit zu ihm kommen kann? Himmel, nein! Das ging überhaupt nicht! Was würde er von mir denken!

Aber vielleicht konnte ich ihn dazu bringen, ein bisschen rumzuknutschen? Schnell kramte ich sämtliches Repertoire meiner Verführungskünste aus dem Gedächtnis hervor, wo es lange ungenutzt gelegen hatte. Irgendwie machte er nicht den Eindruck, als hätte er jetzt sowas im Sinn, aber mein Gott, ich würde ihn schon nicht vergewaltigen, wenn er nicht wollte. So ein bisschen Knutscherei, was machte das schon? Früher war das Standard auf jeder Schulparty.

Donnerstag, 18. Mai 2006

Die Geschichte, die NICHT "Freibeuter des Herzens" heißt - Teil 4

Albert von der Taubeninsel entstammte einer Dynastie von Piraten, die auf den gefürchteten Ferdinand den Seebeuter zurückging, welcher genau vor 317 Jahren am höchsten Mast eines Dreimastschoners von seiner Mannschaft aufgeknüpft worden war. Nichtsdestotrotz hatte er zu diesem Zeitpunkt schon ein erkleckliches Sümmchen beiseite geschafft, dessen Aufbewahrungsort er nur an eines seiner Kinder weitergegeben hatte, von denen es jedoch noch viele mehr an jedem Ende der Welt gab. Und während die meisten anderen der ehrenwerten Tradition ihres Vaters und der Freibeuterei folgten, spazierte Karl, der Sohn Ferdinands mit einer polnischen Dienstmagd, einundzwanzigjährig auf einen großen Raddampfer, um sich mitten im sumpfigen Delta der Spree eine kleine Insel zu kaufen und eine herrschaftliche Villa darauf zu errichten. Diese Insel, die Taubeninsel, ist nur den wenigsten Leuten bekannt, ganz im Gegensatz zu der Pfaueninsel, einem beliebten Ausflugsort, und versteckt sich hinter einem undurchdringlichen Wald aus alten Eichen. Kaum einer hat sie je betreten.

Versonnen beobachtete ich den neuen Gast und vermeinte das kühn geschwungene Profil eines Piraten in seinen Zügen zu erkennen, was natürlich völliger Unsinn war, da er ja gar nicht dieser Linie abstammte. Sehr bald wurde ich dann auch aus meinen Träumereien gerissen, weil Tante Bärbel mit mir plaudern wollte.

„Was machen dein Bruder und seine neue Freundin?“

„Denen geht es gut.“

„Ich habe gehört, seine neue Freundin, wie heißt sie doch – Gunhilde, soll ein wenig eigenartig sein?“ Ihre Augen funkelten lüstern.

„Wie kommst du darauf?“

„Na, deine Mutter hat überall erzählt, sie hätte schon nach drei Wochen des Kennenlernens seine dreckige Wäsche in ihrer Waschmaschine gewaschen.“

„Ach weißt du, sie fand es vorher ebenso merkwürdig, als die damalige Freundin jahrelang seine Wäsche NICHT gewaschen hat. Ich glaube, das hat nicht viel zu sagen.“

Insgeheim fragte ich mich, nach welcher Zeitspanne es wohl gesellschaftlich akzeptiert und nach welcher sogar gesellschaftlich gefordert wird, die dreckige Wäsche seines Liebhabers zu waschen.

Um mich herum war die Stimmung genau wie der Lautstärkepegel rapide angestiegen, denn nicht nur ich hatte kräftig mit alkoholischen Getränken desinfiziert. Die alten Leute - Bekannte, Freunde und Geschwister meiner Tante -, die vor zwei Stunden noch relativ still ihren Kuchen zermatscht hatten, wurden mopsfidel, wie man so schön sagt. Einige verlangten lautstark nach Musik und eine Vinylplatte mit Gassenhauern aus den zwanziger Jahren wurde aufgelegt.
Schon bei „Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln geh’n“ schunkelten die ersten lustvoll auf ihren Stuhlkanten mit und summten pianissimo im Takt. Zur Melodie „Das ist die Berliner Luft“ grölte schließlich die ganze Runde entfesselt mit und hämmerte mit den Fäusten im Rhythmus auf den Tisch, dass die Wände wackelten. Der famose Ex, dem wohl mein sowohl amüsierter wie auch fassungsloser Blick nicht entgangen war, zwinkerte mir vergnügt zu. Und spätestens als die Zeilen „Die ganze Welt ist wie verhext. Veronika, der Spargel wächst.“ erklangen, hatte sich das kleine Zimmer in einen Hexenkessel verwandelt, in welchem Onkel Gustav Tante Sieglinde auf den noch immer drallen Hintern klapste, während Onkel Herrmann, ihr Mann, süffisant grinste und Tante Helga das Knie tätschelte, ohne dabei zu vergessen, auch Tante Barbara mit einigen Spritzern Sekt in ihr hasenpelz-geschmücktes Dekollete zu beglücken, welche daraufhin kokett kreischte. Tante Bärbel hingegen lachte lauthals und ließ ihre Brüste unter dem Strickpullover undefinierbarer Farbe im Takt zur Musik mithüpfen.

Nicht nur die Leidenschaften kochten, auch die Luft im Wohnzimmer war siedend heiß, zumindest schien es mir so. Mein Gesicht glühte und auch meine Zunge wollte mir nicht mehr so recht gehorchen. Gerade schunkelte die versammelte Mannschaft ausgelassen Busen an Busen zu „Püppchen, du bist mein Augenstern. Püppchen, hab dich zum Fressen gern...“ als ER sich neben mich auf die Sofakante setzte und fragte, ob ich auch Lust auf ein bisschen Abkühlung hätte.
Natürlich hatte ich das! Und so ließ ich mich nicht lange bitten und folgte ihm in die kaum merklich kühlere Küche, wo wir uns ein kaltes Mineralwasser eingossen.

„Sodom und Gomorrha.“ lachte er.

„Ja, unglaublich!“ antwortete ich und lachte zurück.