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Entdeckung der verlorenen Zeit

Donnerstag, 13. Juli 2006

Die (immer noch) namenlose Geschichte - Teil 23

Tagebucheintragung vom 13.7.1979

Klaus Luchterhand – Held der Arbeit. Klingt bescheuert. Jeder weiß, dass ich kein Held bin. Doch bei Schatzi fühle ich mich so. Gerade drei Wochen ist es her, dass wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Und meine Aufregung stellte sich als völlig unbegründet heraus. Na ja, nicht ganz. Aber inzwischen habe ich mich gut unter Kontrolle. „Los Katerchen,“ hat sie gesagt, „gleich noch mal!“ und dann habe ich es ihr richtig gegeben, bestimmt. Hinterher hat sie mich gekniffen. Ich habe jetzt noch den blauen Fleck, der inzwischen grün geworden ist. Sie ist so heißblütig und temperamentvoll, ganz anders als ich. Seitdem könnte ich dauernd, wenn ich sie nur sehe, ach, was sage ich, wenn ich nur ihre Stimme höre oder an dem Laken rieche, auf dem sie gelegen hat.& Wenn ich neben ihr im Bett liege, ist an Schlaf kaum zu denken. Aber schlafen kann ich noch genug, wenn ich tot bin und schließlich habe ich viel nachzuholen. Ich kann mein Glück gar nicht fassen, dass so eine tolle und erfahrene Frau mich liebt. MICH. Tut sie das? Ganz sicher. Olga ist seit Wochen nur mit mir zusammen. Es ist die Art, wie sie sich mir hingibt, die mich so sicher macht. Dass sie schon andere vor mir hatte, stört mich überhaupt nicht, weiß sie sich jetzt doch das Beste von mir zu nehmen. Aber manchmal frage ich mich, ob sie sich den anderen wohl ebenfalls so entgegengestreckt hat, wie sie das bei mir tut. Und ob sie es mit den anderen vielleicht häufiger gemacht hat als mit mir. Leider will sie nämlich nicht so oft wie ich. Letztens hat sie mir plötzlich eine Ohrfeige gegeben, als ich versucht habe, sie mitten in der Nacht zum vierten Mal zu verführen. Ich war vielleicht erschrocken. Wenn sie so wütend ist, kann sie einem richtig ein bisschen Angst machen. Aber sie hat recht, es war dumm von mir, schließlich kann ich ja nicht erwarten, dass sie es die ganze Nacht hindurch mit mir treibt. Sie braucht ihren Schlaf und ich will ihn ihr gönnen. Sie soll es gut haben bei mir. Deshalb halte ich mich jetzt zurück und bewache ihren Schlummer, wenn die Müdigkeit, wie so oft an ihrer Seite, einen großen Bogen um mich macht. Ich mag es, ihr in diesen Momenten des Traumschlafes zuzuschauen, in welchen sich ihre Augäpfel wie wild unter ihren schönen Lidern mit den langen Wimpern bewegen, und ich stelle mir vor, wie sie von mir träumt und wir dort drüben, in ihrer anderen Welt, die schmutzigsten Dinge tun. Manchmal sabbert sie im Schlaf, das ist richtig süß. Ich lecke dann mit meiner Zunge vorsichtig ihren Speichel vom Kinn und vom Kopfkissen auf. Natürlich so, dass sie es nicht merkt. Diese Hitze ist zur Zeit kaum auszuhalten. Allerdings weiß ich nicht genau, ob es wirklich nur der heiße Sommer ist oder nicht vielmehr die ständige innere Hitze, die mich so auslaugt. Aber ich möchte es gar nicht anders. Nächsten Monat bekomme ich endlich den Trabi, für den ich mich zwei Tage nach meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag angemeldet habe. Ich scheine tatsächlich eine Glückssträhne zu haben.&

Samstag, 8. Juli 2006

Die Geschichte, die NICHT "Das Schiff der Verdammten" heißt - Teil 22

Blitzschnell wurden auf Geheiß des Kapitäns hin von emsigen Kletterern die Taue an den Rahsegeln gelöst. Die Brise war so dünn, dass sie das Leinentuch völlig unbeeindruckt ließ, und trotz des Setzens sämtlicher Segel kamen sie kaum vorwärts. Immerhin hatten sie sich dem Kanonenboot bald so weit genähert, dass Ferdinand der Seebeuter durch das Fernrohr den Namen „WASILISSA“ entziffern konnte.

„Wasilissa, du Schöne, was trägst du in deinem Bauch?“ flüsterte er verschwörerisch und ein kleines Grinsen huschte über seine Mundwinkel. Außerdem machte er sechs gut ausgestattete Kanonen aus. Der Sturmvogel hatte nur zwei und diese waren überdies so klapprig, dass man bei jeder Benutzung befürchten musste, dass sie mitsamt der Kugel in die Luft flogen. Doch den Kapitän kümmerte das nicht und die Mannschaft schien sich davon ebenfalls nicht abschrecken lassen zu wollen. Ketten-Hannes krakeelte wie am Spieß und rasselte ungeduldig mit der Eisenkette, an deren Ende eine harmlos aussehende Kugel hing, der man ihre Schwere nicht anmerkte. Der Koch dagegen säuberte konzentriert sein großes Tranchiermesser an dem Tuch, welches er sich als Schürze in den Gürtel gestopft hatte. Fridolin, die Schiffsratte, kümmerte das alles gar nicht. Sie spazierte flink auf einigen Vorratstonnen herum. Und alle starrten gebannt auf den Umriss im Nebel, dessen Konturen sich zwar nur langsam, aber immer stärker von der Umgebung abhoben. Sankt Petersburg allerdings war unter einer undurchdringlichen Dunstglocke verschwunden.

Das andere Schiff schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Der Nebel kam ihnen gut zupass. Ferdinand kaute nervös an seinen Fingernägeln, sein rotes Haar lag ungebändigt auf seinen Schultern, und auch unter den anderen Männern der Sturmvogel breitete sich eine unbestimmte Erregung aus, welcher sich jedoch noch keiner Luft zu machen gedachte. Eine konzentrierte Stille legte sich über das gesamte Deck, so dass nur noch die kleinen Wellen, welche sich am Schiffsrumpf brachen, zu hören waren. In dem berühmten Seebeuter reifte ein Plan heran.

„Hört mal alle gut zu!“ sagte er mit leiser Stimme zu seinem Steuermann und dieser winkte die nächststehenden Männer der Crew zu sich heran.
„Dieser Peter soll auch wieder heraufkommen, wir brauchen ihn.“
Jemand der Männer gab selbigem unter Deck Bescheid und mit mürrischem Blick kam er herangetrottet, die Haare struppig und zerzaust.
„Ich habe da eine Idee.“ begann der Kapitän wichtig, „Und du, Peter, wirst uns helfen, sie auszuführen.“
Die Augen des Schiffsjungen weiteten sich vor Freude.
„Nun erzähl schon, Meister!“ konterte Ketten-Hannes ungeduldig.

„Ich habe vor, Peter dort hinüber auf die Wasilissa zu schicken, unter dem Vorwand, dass er erkrankt ist. Die haben bestimmt einen Schiffsarzt und ich glaube nicht, dass sie sich weigern werden, ihm zu helfen. So kommen wir nahe genug an das Kanonenboot heran und.....ähm.... während sie sich in Sicherheit wiegen, werden wir ihnen ein tüchtigen Schuss vor den Bug versetzen, der das Chaos auslösen wird. Die beste Gelegenheit für uns, das Schiff zu entern, denn so schnell werden sie nicht antworten können. Was meint ihr?“

Peter war während der Ansprache blass geworden, Hannes grinste zustimmend, andere nickten mit den Köpfen, einige jedoch reagierten gar nicht und schauten betreten in die Luft.

„Na was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen?“

„Was ist mit dem Jungen?“ Wilfrid Zeew fragte ernst und bestimmt, seine hellen Augen blickten missbilligend.

„Na was soll mit ihm sein? Den holen wir wieder runter.“

„Ja, wenn er dann noch lebt. Sobald wir angreifen, werden sie ihn als Geisel nehmen und möglicherweise sogar töten. So schnell werden wir das Schiff nicht geentert haben.“

Peter wurde noch blasser.

Der Kapitän tobte innerlich und hätte fast geschrien, was sie denn noch mit diesem kleinen Balg wollen, doch er beherrschte sich mit knapper Not, wobei seine Wangenknochen angestrengt unter der braunen Haut arbeiteten und antwortete diplomatisch:

„Er ist doch nicht dumm, auch wenn er uns fast die gesamte russische Flotte auf den Hals hehetzt hätte, und mutig obendrein.“ Dabei zwinkerte er Peter wohlwollend zu.

Dieser war hin- und her gerissen. Er ahnte nicht, ob das Kribbeln auf seiner Kopfhaut von dem Stolz über das Lob her rührte oder von der Furcht vor dem, was ihn erwarten würde.
Dann entschied er, dass die Furcht stärker war und wagte einen kraftlosen Einwand:
„Aber ich bin doch gar nicht krank.“

Ferdinand wusste nicht, ob er lachen oder heulen sollte, aber begriff, dass beides in dieser Situation zwecklos war.
„Natürlich nicht. Aber du wirst so tun.“ erklärte er milde.

Noch immer wirkte Peter nicht überzeugt und alles andere als begeistert. Es kamen Stimmen auf unter den Männern, dass es zu riskant wäre und man sich auf einen anderen Plan einigen sollte. Der Seebeuter beschloss, dass es an der Zeit sei, Peter eine gutgemeinte Entscheidungshilfe zu geben. Er beugte sich unauffällig zu ihm herunter und flüsterte:
„Du hast die Wahl – entweder werfe ich dich auf offener See über Bord oder du gehst auf dieses Schiff dort drüben. Na?“

Erschrocken schaute Peter vom Kapitän zum Steuermann, von diesem zu Ketten-Hannes, von Ketten-Hannes wiederum zu Wilfrid Zeew und schließlich zu dem Rest der Mannschaft, alle tuschelten und schauten erwartungsvoll, hatten aber von der Drohung des Seebeuters anscheinend nichts mitbekommen. Schließlich nickte er und stieß ein gequältes „In Ordnung.“ hervor.

Die Männer kamen heran und klopften ihm anerkennend die Schulter. Nur Wilfrid Zeew äugte weiterhin misstrauisch zu Peter und dem Kapitän hinüber, während sich die Planken des Schiffbodens ächzend unter der Gewalt des Wassers beugten.

Dienstag, 27. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Willkommen im Paradies" heißt - Teil 21

Doch diesen Gedanken behielt ich für mich und ob er ihn ebenfalls dachte, konnte ich nur an dem leichten Zucken seiner Mundwinkel erahnen. Mit einem Glas Pils für ihn und einer Weißen mit Schuss für mich zogen wir uns auf eine Parkbank inmitten blühender Rosenbüsche und einer kleinen Wasserfontäne zurück. Der helle und eintönige Klang des bewegten Wassers übte eine angenehm entspannende Wirkung auf mich aus, welche von den ätherischen Rosenmolekülen, die ich mit vollen Zügen einsog, noch verstärkt wurde. Eine kurze Zeit lang sagten wir gar nichts. Jeder von uns schien vollauf damit beschäftigt, die vielfältigen Düfte, Klänge und Farben der Umgebung zu registrieren, einzuordnen und zu genießen. Die sinkende Sonne strahlte noch hell und warm, aber die Wucht ihrer Hitze hatte glücklicherweise nachgelassen. Die säuerliche Süße des Bieres perlte erfrischend auf meiner Zunge, Hummeln summten sich von Blüte zu Blüte und neben dem Papierkorb hatte jemand sein Eis fallengelassen. Ein bisschen stellte ich mir so das Paradies vor, allerdings ohne Papierkörbe. Warum eigentlich?
Leise fragte Robert mich schließlich, wie weit ich mit meiner Renovierung bin und was ich sonst noch tue. Eher lustlos erstattete ich Rapport und fügte gleich noch die Erzählung des Bratkartoffelessens bei Herrn Luchterhand hinzu, nicht ohne zu erwähnen, dass dieser auf der Spur der absolut vollkommenen und perfekten Bratkartoffel sei.

„Der hat ja 'nen Schatten!“ entgegnete Robert dazu nur trocken.

Was ich eigentlich bei meinem Nachbarn gesucht hatte verschwieg ich, ebenso meine seltsamen Erlebnisse im Keller.

„Duuhuuuu, sag mal, was macht man eigentlich mit einem Glasschneider?“ fragte ich stattdessen vorsichtig.

„Mit 'nem Glasschneider? Na damit kannst du Glas zuschneiden!“ sprach es und lehnte sich zurück.

„Ja, toll. Ich meinte eigentlich, wozu man ein Gerät braucht, welches Glas schneidet. Äh, warum sollte man Glas schneiden wollen? So als normaler Mensch?“

Robert wendete sein Gesicht zu mir und sah mich aufmerksam mit einem atemberaubenden Blau von der Seite an:
„Na damit kann man zum Beispiel Löcher in Fensterscheiben schneiden, wenn man irgendwo einbrechen will. So sieht man das manchmal im Fernsehen.“

Super. Genau das hatte ich eigentlich nicht hören wollen.

„Gibt es denn auch noch was anderes, wozu man die als Heimwerker benutzen kann?“

„Denke schon. Vielleicht zur Herstellung von Glasmosaiken?“ Vor meinem inneren Auge sah ich Herrn Luchterhand, mit Glasschneider und Brecheisen bewaffnet, bunte Glasstückchen zu einem orthodox-russischem Kirchenfenster zusammenpuzzeln. Vergnügt schlurfte ich demonstrativ laut mit dem Strohhalm den letzten Rest Weiße aus der kleinen Kuhle in der Mitte meines Trinkgefäßes und streckte meine nackten Füße in die Abendsonne.

„Wieso? Brauchst du einen?“ fragte er mich spöttisch.

Geschickt lenkte ich nach einem albernen Lachen das Gespräch auf seine Erlebnisse der letzten Tage und sofort begann er übersprudelnd von den Strapazen zu berichten, denen er als Finanzverwalter ausgeliefert war. Bürokratische Banken, launische Kunden, schwankende Kurse und ein unüberblickbares Steuerdickicht.

„Für wen verwaltest du denn seine Finanzen?“ wollte ich wissen.

„Hauptsächlich für meinen Schwiegervater, ähm, ehemaligen Schwiegervater.“

„Ach?“ sagte ich, „Der Albert von der Taubeninsel?“

„Ja, genau der.“

„Der muss ja ein ziemliches Vermögen haben, wenn er es extra verwalten lassen muss und dann kommt ja noch der Grundbesitz dazu.“

„Ja, es reicht, dass ich ebenfalls gut davon leben kann.“ Robert grinste.

„Und das, obwohl du von Annette geschieden bist?“

„Ja, klar! Ich wohne sogar noch dort. Annette ist mit ihrem neuen Ägyptologie-Professor für ein Jahr nach Ägypten gegangen. Der alte Herr vertraut mir weiterhin vollkommen. Nächstes Wochenende findet übrigens ein großer Ball statt, weil er seinen 96. feiert. Wenn du Lust hast, lade ich dich dazu ein...“ er lachte und setzte hinzu: „....bist ja auch so was wie Verwandtschaft - entfernte.“

„Ein Ball? Ach du Schreck. Bestimmt alles piekfein und gezwungen, wah?“

„Ach Quatsch. Er besteht darauf, es Ball zu nennen, in Erinnerung an alte Zeiten, aber eigentlich ist es eine ganz normale Gartenfete. Und vor allem bin ich dort.“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Aber sag mal, 96? Ich dachte, er ist schon längst so alt?“

„Nein.“ antwortete Robert und legte mir seinen Arm um die Schulter, „Er wird es erst übermorgen. Was ist nun?!“

„Uhhh, ich hab’ schlechte Erinnerungen an Gartenfeten. Ich komme nur, wenn ich da keine Luftballons um die Wette aufblasen oder an so ’nem dämlichen Seil ziehen muss.“

„Neee, garantiert nicht. Kindergeburtstag ist das nicht. Jeder darf machen, was er möchte.“

Meine Neugier überwog trotz anfänglichen Zögerns, schließlich gab es nur wenige Menschen, die schon einen Fuß auf die Taubeninsel gesetzt hatten, und ich sagte zu.

Als wir gegen 22 Uhr den Park verließen war es noch immer taghell und in der kleinen Nische an der Mauer lag nun ein altes Bügelbrett. Dies erschien mir als symbolisches und vorausschauendes Omen weit weniger günstig. Es mit Nichtachtung strafend marschierte ich daran vorbei.

Sonntag, 25. Juni 2006

Die (immer noch) namenlose Geschichte - Teil 20

Vielleicht waren meine Augenringe etwas zu tief, meine Haut etwas zu blass, meine Fingernägel etwas zu zersplittert und mein Gesichtsausdruck etwas zu lustlos, doch Robert schien es nicht zu bemerken. Freudig begrüßte er mich vor dem baufällig-barocken Tor eines städtischen Naherholungsgebietes. Die Jacke hatte er diesmal weggelassen. Er trug ein sommerlich-legeres weißes Baumwollshirt zu einer knielangen Bermudahose, welche den Blick frei gab auf außerordentlich schön geformte und optimal behaarte Waden. Selbst in meinem jetzigen Zustand konnte mir das nicht entgehen. Sogleich fühlte ich etwas durch meine Adern fließen, ich will es Leben nennen, und die nette Art von Begrüßung tat ein übriges, dass ich mich mit einem Mal überhaupt nicht mehr müde fühlte.
Warmer Wind wehte übermütig durch mein Haar und der süße Duft des gelb-hängenden Geißblatts stieg mir verheißungsvoll in die Nase. Robert plauderte sofort drauflos, er hatte eine sehr unterhaltsames und souveränes Verhalten an sich, welches mir die Illusion meiner eigenen Persönlichkeit um so stärker ins Gedächtnis brachte. Mir war jetzt schon klar, dass ich ihm unter den Händen zerrinnen würde wie schmutziger Staub und es würde ihm nicht einmal auffallen. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Bereit alles hinter mir zu lassen, schlenderte ich mit ihm auf den Eingang zu, wobei ich auf einem kleinen Mauervorsprung eine buntbemalte afrikanische Buschtrommel wie ein wundersames Omen in einer Ecke stehen sah. „Merkwürdig“ dachte ich, „was man in dieser Stadt so alles findet...“

Wir kreuzten die Allee mit den blühenden Apfelbäumen und steuerten geradewegs auf den Biergarten zu, aus welchem gedämpftes Gemurmel und gelegentliches Gläserklirren, unterbrochen von mehrmaligem Lachen klang. Schnell hatten wir uns einen freien Tisch neben einer alten Linde gesucht, die angenehmen Halbschatten spendete, und sofort untersuchten wir genauestens die Speisekarte. Ich orderte einen großen Salat und er ein überbackenes Steak (warum wusste ich das schon vorher?), die würzige Luft machte Appetit - genießerisch ließ ich die zitronige Marinade auf der Zunge zergehen, nachdem ein untersetzter, kraushaariger Kellner uns das gewünschte gebracht hatte. Robert hatte sich sofort über sein Steak her gemacht, erinnerte sich aber zwischendurch netterweise an mich und fragte, ob ich mal davon kosten möchte. Wir einigten uns auf den Tausch von einem Stückchen Steak und einem Kartoffelschnitz gegen ein Tomatenviertel und einen Würfel Fetakäse, die Handlung des Herübereichens der Kostprobe mit der Gabel seinerseits wurde von ihm mit dem Wort „Raubtierfütterung“ begleitet. Erleichtert stellte ich fest, dass ich nicht rot wurde. Er konnte mich nun bis an sein Lebensende mit unserer ersten Begegnung in seinem Wagen aufziehen, er würde kein Vergnügen daran haben.

„Ist nett hier.“ stellte er fest. „Gemütlich. Kommst du oft hier her?“

„Nö, eigentlich nicht. Ich bin niemand, der sich oft in Biergärten und Cafes herumtreibt. Und du?“

„Na ja, sagen wir so: es ist nicht mein Lebenssinn.“

Wir lachten und beschlossen mit einen großen Eisbecher für jeden nachzulegen, jedoch erst nachdem er mich gefragt hatte, ob ich nicht lieber ein Stück Sahnetorte möchte. Ich hörte diese Neckereien kaum noch und winkte nur grinsend ab. Kleine weiße Fallschirmchen tanzten überall in der Luft, ließen sich in unseren Haaren, auf den Armen und Schultern nieder. Deutlicher konnte man niemanden darauf aufmerksam machen, dass wir uns mitten in der Paarungszeit befanden.

Dienstag, 20. Juni 2006

Die namenlose Geschichte - Teil 19

Rein und gleißend brach sich das Licht der Nachmittagssonne an den kühlen, frischgeweißten Wänden. Bei weit aufgerissenen Fenstern entfernte ich die letzten Farbspritzer von Scheuerleisten und Fensterscheiben, während ein leichter Farbgeruch mein Gehirn fast unmerklich umnebelte. Doch nicht nur Farbdämpfe waberten durch mein Geruchszentrum, auch ein pausenloser Lärm, verursacht durch mehrere Baggerfahrer, welche sich auf der Anliegerstraße irrsinnig zu schaffen machten, durchdröhnte meinen Kopf im Unendlostakt, bis ich nichts mehr wahrnahm, sondern nur noch ein physisch vibrierendes Unbehagen und eine nervöse Gereiztheit verspürte. Vollkommen fertig ließ ich mich auf das satinseidene Bett fallen, wo ich beinahe eingenickt wäre, jedoch jedes Mal von dem inneren Dröhnen wieder hoch schreckte, welches sich inzwischen bis in meine Zehenspitzen fortgepflanzt hatte. Leicht angewidert schleppte ich mich in die Küche um zu überlegen, was ich mit diesem Tag noch anfangen sollte, nachdem die Arbeit für heute getan war. An Schlafen war nicht zu denken, obwohl ich mich fühlte, als müsste ich eine Woche lang besinnungslos alle Viere von mir strecken.
Nach einer erfrischenden Dusche versuchte ich es mit positivem Denken, welches schließlich in dem Einfall mündete, mir eine schallisolierte und klimatisierte Schlafkabine in die Wohnung setzen zu lassen. Doch schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder, denn ich wusste aus Erfahrung, das Klimaanlagen eine ebenso aufreizende Wirkung auf mein Befinden haben. Aber vielleicht half es ja, wenn ich mich ablenkte. Vor mich hin fluchend suchte ich das kleine Kärtchen, welches ich gestern von dem Bücherstapel im Flur entwendet hatte. Endlich fand ich es in einem Hosenbein der Jeans wieder, die ich achtlos in eine Ecke neben dem Kleiderschrank geworfen hatte. Zögernd tippte ich die Zahlen in das Telefon, als der Hörer auf einmal begann, den Alarm in der Halle des Bergkönigs zu schrillen und ich ihn vor Schreck fast fallengelassen hätte.
„Ja?“ fragte ich müde und hörte am anderen Ende eine fremde, aber irgendwie auch sehr vertraute Stimme.
„Was machst du heute?“ fragte mich diese.
„Das weißt du doch.“ antwortete ich ziemlich barsch, was mir gleich darauf leid tat, und ich überlegte, ob ich erwähnen sollte, dass ich ihn gerade beinahe angerufen hätte.
„Ach so. Na ich wollte nicht stören.“ hörte ich, danach ein Schweigen.
„Warte mal, ich bin für heute fertig. Was gibt’s denn?“
Robert brachte lässig hervor, dass er dachte, wir beide könnten ja mal den Biergarten unsicher machen, natürlich ohne Bier, oder auch mit, aber nicht zuviel, oder so, vielleicht auch auf einen kleinen Spaziergang. Nur so. Nur wenn ich Lust hätte.
Ich seufzte angestrengt in das Telefon und machte damit klar, dass jedwede körperliche Bewegung für mich heute nicht mehr in Frage käme. Aber Biergarten wäre ok, denn ich hatte sowieso noch nichts gegessen. Er wollte wissen, ob er mich abholen solle, doch die peinliche Erinnerung an seinen letzten Besuch brachte mich dazu, einen Treffpunkt am Park auszumachen. Eine halbe Stunde hatte ich Zeit, um aus einem bemitleidenswertem und bedauernswürdigem Wrack das blühende Leben zu machen.

Montag, 19. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Die Tagebücher des Klaus Luchterhand" heißt - Teil 18

Tagebucheintragung vom 19.06.1979

Was soll ich nur schreiben, um ausdrücken zu können, wie glücklich ich bin?
Heute traf ich sie wieder. Wir fuhren auf die Felder, ich hatte eine Decke mitgebracht und sie kalte Buchweizenpfannkuchen (übrigens sehr lecker – langsam lerne ich die russische Küche zu schätzen, wenn auch einiges gewöhnungsbedürftig ist). Vor dem Ortsausgang trafen wir auf eine Kolonne NVA-Fahrzeuge. Wir befürchteten schon, in eine Truppenübung zu geraten. Man weiß ja gar nicht, wo man noch seinen Fuß hinsetzen darf. Überall sind ganze Waldgebiete abgesperrt. Einige Soldaten pfiffen ihr hinterher und ich kann das gut verstehen.
In diesem weiß-geblümten Sommerkleid kommt ihr süßer Knackarsch besonders gut zur Geltung, weil der Rock bei jedem Schritt so luftig mitschwingt. Na ja, ein bisschen eifersüchtig war ich auch, nur ein bisschen. Und sie hat sich umgedreht und mich angelacht. Eine Baumblüte hing in ihrem Haar. Wir haben uns ein stilles und uneinsehbares Plätzchen mitten im Feld gesucht. Dort habe ich sie geküsst (diesmal schon etwas mutiger, als beim ersten Mal am Fluss), nachdem ich ihr das Tuch aus dem Picknickkorb über die Augen gelegt hatte. Das ging sehr gut, denn gleich war ich nicht mehr so schüchtern. Ich habe gedacht, dass vielleicht etwas (das) passiert und war schrecklich aufgeregt. Ganz feuchte Hände hatte ich, ich hoffe, sie hat das nicht gemerkt (ich habe sie immer unauffällig an der Picknickdecke abgewischt). Wie ich es hasse, dass ich so dumm und unwissend bin. Ich getraue mir nicht zu sagen, dass ich mit 34 Jahren noch nie.......
Aber wird sie es nicht ohnehin merken? Vielleicht, wenn ich mir besonders viel Mühe gebe, stört es sie nicht. Und wenn sie mich wirklich liebt, ist das dann nicht nebensächlich?
Ich habe gerade &. Mir kommt es schon, wenn ich nur an sie denke. Ich durfte ihre Brüste anfassen. Sie sind so üppig, weich und warm. Und sie hat sich über mich gebeugt und mit ihnen mein Gesicht berührt. Was für ein Wahnsinns-Gefühl! Ich stelle sie mir jetzt immer so vor. Während ich das schreibe, könnte ich schon wieder. Ich werde mir jedes einzelne Mal mit & notieren, damit ich niemals die Leidenschaft und das Begehren vergesse, die ich heute für sie empfinde. Und wer weiß, vielleicht irgendwann, kann ich ihr ja sogar meine gesammelten „Ergüsse“ überreichen, als Beweis meiner Liebe, denn ich möchte, dass sie alles über mich weiß und meine tiefsten Abgründe kennt.
Ach ja, da fällt mir ein, zum Abend hin, als sich die Schäfchenwolken in ihren wunderschönen blauen Augen spiegelten, da sagte sie: „Klaus (ich mag den leicht klirrenden Klang, mit dem sie meinen Namen ausspricht), das war ein herrlicher Tag!“
Für mich auch, Liebes, für mich auch! &

Samstag, 17. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Die Piraten des Baltischen Meeres" heißt - Teil 17

Ferdinand der Seebeuter, der sich nun inmitten des krakeligen Jubels direkt neben dem Steuermann postiert hatte, um von da seine Befehle zu geben, nahm schräg hinter sich ein Bewegung wahr. Als er herumschnellte sah er den Schiffsjungen Peter, den sie in Sansibar vor einer speckigen Spelunke aufgegabelt hatten, und der gerade noch das Deck mit einem Stein geschrubbt hatte, schnell wie ein Äffchen die Wanten heraufklettern.

„Peter!“ schrie der Kapitän, „ Was machst du denn? Komm sofort da runter!“

„Gleich, Käpt’n. Ich will nur schnell unsere Fahne hissen.“

Der Kapitän wurde puterrot. „Ja, bist du denn des Teufels.....von allen guten Geistern verlassen? Kruzifixundtürkennochmal!“ Die Ader an seiner rechten Schläfe, welche sein Steuermann statt auf das Steuerrad zu achten fasziniert anstarrte, pulsierte gefährlich.
„Komm da runter!“ brüllte er erneut in seinem schwingenden Bass und einem beginnenden hysterischen Tonfall, so dass der Fockmast leicht vibrierte.

„Aber....“ erwiderte schreiend der Schiffsjunge, der schon fast ganz oben angekommen war, und wurde sofort unterbrochen.

„Komm sofort da runter, oder ich lasse dich neben unserer Flagge aufknüpfen!“

Ergeben machte sich der Schiffsjunge wieder auf den Weg zum Schiffsdeck, während Ferdinand noch immer wütend vor sich hinschimpfte. Mit gesenktem Kopf versuchte Peter sich hinter einem der Rettungsboote zu verdrücken, doch der Kapitän zitierte ihn sofort zu sich hinüber und las ihm die Leviten: „Ich gebe hier die Befehle! Und ich sage, wann die Fahne gehisst wird! Willst du uns denn schon verraten, bevor wir zehn Meilen an das Schiff herangekommen sind? Damit die abhauen und uns die gesamte russische Flotte auf den Hals hetzen können? Hast du denn gar keinen Verstand in deinem Schädel? Du gehst jetzt unter Deck und kommst erst wieder hoch, wenn ich es dir sage!“ Mit den silbrigen, zornigen Augen in dem braungebranntem Gesicht, welches von einer steilen Unmutsfalte verunziert wurde, umrahmt von flammenden roten Haaren, wirkte er wie der Leibhaftige persönlich.

„Ai, ai, Käpt’n!“ murmelte der Schiffsjunge betreten und machte sich unsichtbar.

„Alles nur Luschen hier auf diesem Kahn. Die werden mir alles kaputt machen.“ dachte Ferdinand verächtlich und warf einen strafenden Blick auf den Steuermann links von sich, der sich noch immer mehr für seine blau geäderte Schläfe interessierte als für das Steuerrad.

Donnerstag, 15. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Die Piraten des Baltischen Meeres" heißt - Teil 16

Ein Gesicht schwebt über mir, erst fern, dann immer näher, ein böses, grausames Gesicht. Ich will es nicht anschauen und drehe mich weg. Aber immer wieder scheint es sich in mein Bewusstsein zu drängeln, vor meinem inneren Auge zu erstehen. Ein Mann mit kalten Augen unter dunklen, buschigen Augenbrauen. Oder ist es eine Frau? Lange Haare wallen herab und durch sie hindurch sehe ich goldene Perlenohrringe blitzen. Sie hebt ein weißes Laken, als wolle sie mich damit zudecken. Doch das Laken verfärbt sich plötzlich. Erst ist es nur ein Zipfel, aber dann strömt das Dunkel wie Tinte auf einem hellen Löschblatt in alle Richtungen hinaus. Das Laken ist schwarz, schwarz wie die Nacht, die sich sogleich über mich legt.

Erschreckt wachte ich auf und schaute auf die roten Ziffern des Radioweckers. Es war fast Mittag. Da hatte ich nun schon den halben Tag verschlafen, wie ärgerlich. Um so schneller war ich auf den Beinen, um den Rest meiner Arbeit zu vollenden. Es war ein herrlicher Tag mit strahlend blauem Himmel und still verfluchte ich mein Schicksal, das mir zu solch einer Entscheidung verholfen hatte. Wieder musste der polnische Volkskunstlöffel herhalten, als ich mit ihm die kreideweiße Latexfarbe sorgfältig aufrührte. Ich trug Farbeimer, Roller und Abdeckfolie in das Zimmer. Der Fleck auf dem Teppich war schwarz geworden. Verwirrt starrte ich ihn an. Vorgestern war er noch grau und gestern nur leicht dunkler. Wie merkwürdig. So richtig wollte mir das nicht in den Kopf gehen. Ich nahm einen Schluck Grapefruitsaft, zuckte die Schultern, deckte alles Zimmer mit der Folie sorgfältig ab und begann zuerst, die Tapetenränder mit einem Teppichmesser zu säubern. Danach kletterte ich auf die splittrige Holzleiter und legte mit Schwung los, die Decke zu malern. Der Schwung ließ sehr bald nach, spätestens dann als mir der Schweiß auf der Stirn stand und das Achselshirt an jedem Wirbel meines Rückens klebte. Doch unverdrossen strich ich weiter mit der Farbrolle über die vergilbte Tapete, welche sich langsam unter den Bahnen von Weiß lichtete, erstrahlte, so wie in Sankt Petersburg das weiße Silber der Sonne die Nacht erstrahlen ließ.

Viele solcher Nächte hatte die Mannschaft des „Sturmvogel“ nun schon erlebt und insbesondere Ferdinand, der Kapitän, hatte alle diese weißen Nächte durchwacht, damit ihm nicht entginge, wenn tatsächlich das ersehnte Schiff den Hafen auslief. Heute lag das Meer ruhig da, nur grauer Nebel ließ die Linie des Horizontes in bizarren Formen verschwimmen.
Die Männer hatten recht. Sie konnten hier nicht ewig liegen und das Proviant, welches nicht für eine Weltumsegelung bemessen war, wurde bereits knapp. Enttäuschung nagte am Herz des Seebeuters, so wie die Ratte Fridolin, das Maskottchen des Schiffes, welche dieses zweifelhafte Privileg in Ermangelung eines zahmen Sturmvogels erlangte, in der Kombüse an einem Zwiebackkanten nagte.
Müde hatte er gerade, mit dem Kopf am taufeuchten Mast lehnend, für einen Moment die Augen geschlossen, als er den Schiffskoch Heiner, einen vierschrötigen, riesenhaften und überall tätowierten Kerl, der mit dem Tranchiermesser nicht nur geschickt darin war, Wild und Fisch zu zerlegen, sondern es auch in diversen Kämpfen schon zum allgemeinen Nutzen und zum Schrecken der Feinde erfolgreich eingesetzt hatte, aufgeregt rufen hörte.
Er öffnete die Augen und sah diesen, in einer Hand einen Kohlkopf und in der anderen sein berühmtes Tranchiermesser, an der Reling stehen und auf einen diesigen Schatten deuten, der sich langsam von der dunklen, vor ihnen liegenden Landzunge löste.
Sofort war Ferdinand hellwach und führte seinen Kieker an das linke Auge, auf welchem er besser sah, seit ihn die grelle Sonne des Äquators ein Drittel seiner Sehkraft auf dem rechten Auge gekostet hatte. Es war ein Kanonenboot, ohne jeden Zweifel. Und wenn es ein Kanonenboot war, bestanden große Aussichten, dass es genau das Schiff war, auf welches er und seine Mannschaft nun schon seit zwei Wochen warteten. Ruhig wandte er sich an die erwartungsvollen Gesichter seiner Mannschaft und sagte mit Bedacht, jedoch ohne seine Freude gänzlich verbergen zu können: „Habt acht! Wir gehen auf Kurs!“ Die Männer jubelten.

Die Geschichte, die NICHT "Auf geheimer Nachbarschaftsmission" heißt - Teil 15

Also lehnte ich mich nochmals entspannt zurück und begann ganz unverfänglich, indem ich auf ein Regal zeigte: „Diese Matrjoschkas da, gehören die auch deiner Freundin?“

„Wieso fragst du?“ wollte er wissen.

„Na ja, ich dachte nur wegen dem Poster im Flur.“

„Ja, du hast recht.“ Nachdenklich kratzte er sich hinterm Ohr und seine Augen starrten hinunter auf den ornamental-orientalen Webteppich.„Sie mochte russische Dinge. Sie war selbst Russin, weißt du.“

„Ach so? Könnte es nicht sein, dass sie wieder in Russland ist?“

Er zuckte mit den Achseln. „Die Polizei hat damals auch die russischen Behörden um Mithilfe gebeten, aber es gibt bis heute keine Hinweise.“

„Hm“ meinte ich dazu, „das ist seltsam. Wird denn weiter nach ihr gesucht?“

„Na ja“ erzählte er langsam, als müsse er erst überlegen, „sie ist in der Vermisstenkartei aufgenommen und wann immer ein unidentifiziertes....äh.....Opfer gefunden wird oder andere Hinweise auftauchen, werden diese mit der Kartei abgeglichen. Die Kriminalpolizei sagt, dass es ein Verbrechen sein könnte, dass sie sich aber genauso gut irgendwo abgesetzt haben könnte. Sie hatte immer Heimweh, hmm.“

„Hattet ihr euch denn gestritten?“ fragte ich frei heraus und schaute ihn erwartungsvoll an.

Überrascht hob er den Kopf, schlenkernd, um das sofort energisch zu bestreiten. „Wir? Niemals! Wir haben uns nie gestritten! Nein. Sie war einfach eines Morgens nicht mehr da.“

„Aha.“ antwortete ich und sparte mir alle weiteren Worte.

Ein Paar, das nie stritt – ich wusste nicht, ob ich dies meiner realistischen, um nicht zu sagen leicht sarkastischen Sichtweise der Dinge zu verdanken hatte, die meinen aufmerksamen Lesern nicht entgangen sein dürfte, doch die Vorstellung so einer Verbindung ließ mir alleine schon sämtliche Schauer über den Rücken laufen und ich spürte, wie sich selbst die feinsten Nackenhärchen hinter meinen Ohren aufrichteten und sträubten, sobald ich diese Antwort vernommen hatte. Erneut war ich nun misstrauisch geworden. Ich wusste nicht, was es mit dem geheimnisvollen Herrn Luchterhand auf sich hatte, doch ich hätte einen Besen gefressen, dass entweder mit seiner Antwort oder mit der Beziehung irgendetwas nicht stimmte.

Nachdem ich mich freundlich und ohne mir meine Skepsis anmerken zu lassen von meinem Nachbarn verabschiedet hatte, wobei ich ihn einlud, nach der Wohnungsrenovierung mal ein Gläschen Wein bei mir zu trinken, ließ ich mir den Rest des Abends auf dem Balkon die erfrischende und würzige Luft, die das Gewitter hinterlassen hatte, um die Nase wehen.
Die frechen Elstern machten wie immer einen riesigen Rabatz in der Baumkrone vor meinem Fenster, so als würden sie jeden Abend aufs neue um die besten Schlafplätze kämpfen. Als endlich Ruhe herrschte, kam ich in den unerwarteten Genuss eines nächtlichen Minnesanges in Form des Liedes „Dust in the Wind“ aus einer der Nachbarwohnungen (insgeheim fragte ich mich, ob es vielleicht sogar Herr Luchterhand war, der da seinen heimlichen Traum eines Popstar-Lebens träumte), welcher sämtliche streunenden Katzen aus der Umgebung anlockte und diese zu einem Chorkonzert animierte. Doch auch dieses verstummte irgendwann einmal und zurück blieben ich, die Nacht und die Sterne.

Dienstag, 13. Juni 2006

Die Geschichte, die NICHT "Auf geheimer Nachbarschaftsmission" heißt - Teil 14

Doch so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben, weshalb ich hilfesuchend in seine Wohnung spähte. Und sogleich entdeckte ich etwas, das mir helfen würde, das Gespräch in Gang zu halten ohne all zu aufdringlich zu wirken. An einer Seite seines Korridores befand sich eine kleine, in die Wand eingelassene, halbrunde Nische, die augenscheinlich als Ablage diente. So eine hatte ich nicht in meiner Wohnung. Ich bekundete mein Entzücken mit einem staunenden Ausruf der Bewunderung, während ich meinen Blick auf das kleine Wohnstil-Accessoire gerichtet hielt.

„Nein! Wieso habe ich so was nicht in meiner Wohnung? Die ist ja praktisch und hübsch noch obendrein!“

Herr Luchterhands Augen leuchteten auf. „Ja, nicht wahr? Die habe ich selbst gemacht.“

„Ach? Tatsächlich?" war meine fassungslose Reaktion darauf, „Das müssen Sie mir unbedingt mal erklären, wie das geht.“

Herr Luchterhand strahlte. „Also wenn Sie Zeit haben, äh.....können Sie ja für einen Moment herein kommen. Das heißt, wenn es Sie nicht stört, dass ich mir gerade etwas zu essen mache.“

„Aber nein.“ Ich schüttelte den Kopf und trat in den kleinen Flur. Mein Nachbar schloss hinter mir die Tür und bat mich linkerhand in ein großes Zimmer. Alles war sehr sauber und ordentlich, doch das wunderte mich nicht, denn Herr Luchterhand wirkte ebenfalls immer sehr ordentlich und adrett gekleidet. Ich nahm auf einem massigen, dunkelgrünen Sofa Platz, welches so tief war, dass ich mich nicht mit dem Rücken anlehnen konnte ohne halb zu liegen. Sogleich reichte er mir zwei riesige ebenso grüne Sofakissen und forderte mich auf, diese zusätzlich hinter meinem Rücken zu postieren. Das sei bequemer so. Ich tat wie er gesagt hatte und versank in einem dunkelgrünen Meer aus Sofakissen. Nun saß ich sehr gut. Er schien seine Couch gut zu kennen.

Dann entschuldigte er sich und eilte in die Küche, weil dort noch seine Bratkartoffeln auf dem Herd standen. Vorher fragte er etwas verlegen, ob ich vielleicht auch eine Portion haben möchte.

Ich winkte erschrocken ab. Nur keine Umstände. Und ein gemeinsames Essen mit Herrn Luchterhand war mir doch etwas zu intim. Das dachte ich aber nur. Aus der Küche hörte ich ihn rufen, ob ich nicht zumindest etwas trinken wolle. Ich rief zurück, dass mir ein Glas Wasser vollkommen reiche.
Während er an seinem Herd hantierte, sah ich mich neugierig um.
Die dunkle Schrankwand, etwas spießig aber mit schöner Maserung, nahm fast eine gesamte Wand des Zimmers ein. In den offenen Regalfächern standen dicht an dicht und nach Größe sorgfältig aufgereiht diverse Bücher. In einigen anderen Ablagen befand sich Krimskrams und Nepp, wie zum Beispiel eine russische Matrjoschka.
Ich fragte mich, welche Art Interesse wohl Herr Luchterhand an Russland hatte und ob er doch derjenige im Keller gewesen ist. Ich fragte mich ebenfalls, warum ich ihn jahrelang nie zu Gesicht bekomme und er jetzt auf einmal wie ein Gespenst überall im Haus auftaucht. Ein ungutes Gefühl wollte mich nicht loslassen.
In einer Ecke, etwas versteckt, entdeckte ich die obligatorische Kommode mit dem Fernseher.
Fernsehzeitschriften stapelten sich Kante auf Kante in einer Ablage unter dem Couchtisch. Eine robuste hölzerne Pendelleuchte mit Leinenbespannung zierte die Decke.
Vor dem Fenster hingegen schützten grüne Jalousien tagsüber vor der einfallenden grellen Sonne, welche man auf dieser Seite stets hatte, und vor fremden Einblicken aus dem gegenüberliegenden Haus während der Nachtzeit. Undeutlich erkannte ich durch die noch geöffneten Streben hindurch eine Red-Bull trinkende Riesenkrake, die sich mit ihren vielen Armen in einem der Ahornbäume verfangen hatte.

Herr Luchterhand erschien in der Tür mit einem großen und einem kleinen Teller. Beide balancierte er zum Tisch, stellte sie dort ab und setzte sich selbst auf einen der jugendstilartigen Lehnstühle.
Die Bratkartoffeln dufteten herrlich und nicht nur das, sie sahen auch noch fantastisch aus.
Mein Magen gab mir da uneingeschränkt recht. Goldbraun und kross, aber nicht zu dunkel, sogar mit Gürkchenspalten und Tomatenscheiben geschmückt. Auf dem kleineren Teller entfaltete sich ein liebevoll zubereiteter grüner Salat.

Mein Wasser hatte er vergessen, doch sofort, als er zu essen beginnen wollte, fiel ihm das erschrocken ein und mit umständlichen Entschuldigungen eilte er zurück in die Küche um gleich darauf mit einer Flasche Selters und einem prächtigen Kristallglas zurückzukommen. Aber auch jetzt noch wollte ihm das Essen nicht so recht schmecken. Verlegen stocherte er darin herum, während er dabei davon erzählte, wie er die Nische in schweißtreibender Arbeit herausgestemmt, glatt gemeißelt und verputzt hatte.
Er schaute öfters zu mir hinüber und bemerkte schüchtern, dass noch Bratkartoffeln übrig wären, worauf ich sofort wieder abwinkte. Mein Magen widersprach mir hier energisch und innerlich knurrte ich ihn an: „Halt die Klappe.“ Leider ließ er sich nicht den Mund verbieten und knurrte laut zurück, so dass es selbst Herr Luchterhand vernahm. Das war mir außerordentlich peinlich, doch dieser schien sich jetzt von Fragen auf Taten zu verlegen und bestimmte, dass er mir die restlichen Bratkartoffeln holen würde. Ich versuchte gar nicht erst, mich zu wehren. Fast war ich gerührt von so viel Fürsorge. Entschuldigend murmelte ich, dass es heute schon eine Weile her sei, dass ich etwas gegessen habe.

Kurz darauf stand ein ebenso appetitlich duftender Teller vor meiner Nase und ich konnte mich persönlich davon überzeugen, dass die goldgelben Kartoffelscheiben mit dem knusperbraunen Rand köstlich waren.
„Herr Luchterhand...“ begann ich und wurde sofort unterbrochen.

„Klaus. Sagen Sie Klaus. Wenn es Ihnen recht ist, dass wir uns künftig duzen.“

Ich nickte. „Gerne. Ich heiße Kira.“

„Ein außergewöhnlicher Name. Klingt nach einem Papageienvogel.“ antwortete er ernst.

Prustend bemühte ich mich, den letzten Bissen bei mir zu behalten.

„Sie können sicher, äh.......du kannst sicher sein, dass ich sehr viel weniger plappere als ein Papagei.“

Auch Klaus kicherte. „Wie du sicher schon bemerkt hast, bin ich ebenfalls nicht gerade der Unterhaltungshit.“

Er wurde mir immer sympathischer. Sein graues, kantiges und gequältes Äußeres bemerkte ich kaum noch. Oder hatte es sich aufgelöst? Die grauen Augen erschienen mir mit einem mal sanft und freundlich. Selbst das Lächeln wirkte nicht mehr steif, sondern nur noch ängstlich.
Wenn da nur nicht dieses geheimnisvolle Verhalten und die seltsamen Vorfälle wären.
Sollte ich ihn direkt danach fragen? Ich beschloss zu warten. Es schien der Beginn einer, zwar nicht gerade wunderbaren Freundschaft, aber doch einer netten Nachbarschaft zu sein. Vielleicht war ja alles bald vergessen und würde nicht mehr vorkommen.

„Klaus....“ begann ich noch mal. „Deine Bratkartoffeln sind einfach fantastisch. Ehrlich. Woher kannst du denn so gut kochen?“

Verlegen kicherte er erneut. „Ich kann eigentlich gar nicht kochen.“

„Ach komm....!“

„Neee, ehrlich. Ich kann nur Bratkartoffeln. Doch die Zubereitung dieser habe ich in jahrelangen experimentellen Versuchsreihen schrittweise immer mehr perfektioniert.“

„Jetzt willst du mich aber auf den Arm nehmen?!“

Er sah mich verständnislos an. Klar, wie hatte ich auch annehmen können, dass jemand wie Klaus Scherze macht.

„Es war sehr viel Arbeit, die Bratkartoffeln so zu vervollkommnen, dass sie jetzt schmecken, wie du sie gerade gegessen hast. Zum Beispiel verwende ich zum Braten nur noch selbst hergestelltes Kräuter-Butterschmalz. Die Kräuter dazu baue ich ebenfalls selbst an, genauso wie die Zwiebeln. Und ich arbeite weiter daran, eines Tages die absolut vollkommene und perfekte Bratkartoffel herzustellen. Das hier ist nur der Anfang.“

Am liebsten hätte ich laut losgelacht, doch weil er beim Reden so ernst war, blieb auch mir das Lachen im Halse stecken. „Ähem.“ sagte ich deshalb bloß und nahm einen Schluck aus dem Kristallglas.

„Nun“ erzählte er weiter, „ich kann zwar außer Bratkartoffeln nichts anderes kochen, aber dafür auch noch leckeres Schmalz auslassen. Das mache ich ebenfalls selbst. Wenn Sie, äh....du möchtest, mache ich für dich mal ein kleines Töpfchen.“

„Danke. Das ist nett, aber vorerst nicht nötig.“

Gerade wollte ich mich verabschieden, da fiel mir ein, weshalb ich eigentlich überhaupt hier war. Nicht wegen der Bratkartoffeln, sondern weil ich etwas erfahren wollte.