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Das vergessene Poesiealbum

Donnerstag, 17. Dezember 2009

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Jene, die das Tao erreichen...
Springen ins Feuer, ohne sich zu verbrennen,
Durchschreiten die Wirklichkeit wie ein Nichts
Und das Nichts, als wäre es die Wirklichkeit.
Sie sind überall zu Hause.

(T'u Lung)

Mittwoch, 25. November 2009

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"Die Berliner Sprachverderber sind doch auch zugleich die einzigen, in denen noch eine nationelle Sprachentwicklung bemerkbar ist; zum Beispiel Butterkellertreppengefalle, das ist ein Wort, wie es Aristophanes nicht gewagter hätte bilden können; man fällt ja selbst mit hinunter, ohne auch nur eine Stufe zu verfehlen." (F. Foerster, Gespräche mit Goethe, 1831)...
Diese Ironie ist unbestreitbar ein Spezifikum des Berliners. Vielleicht ist sie es, die das derart Unverwechselbare in der Psyche des Berliners ausmacht. Ironie als Rettung angesichts der Abgründe, der Zerstörung, der in Trümmer sinkenden Umwelt. Die Ironie gab sich als Schnoddrigkeit. Die bombardierten Stadtbezirke bekamen entsprechend neue Namen: "Klamottenburg" (Charlottenburg), "Stehtnix" (Steglitz) oder "Trichterfelde-Rest" (Lichterfelde-West). Und die böseste Aussage: "Wer jetzt noch lebt, is selba schuld - Bomben sind jenuch jefallen!"

(aus "Da sind noch ein paar Menschen in Berlin" von Konrad Hoffmeister und Günter Kunert)

Besuch vom Lande

Sie stehen verstört am Potsdamer Platz.
Und finden Berlin zu laut.
Die Nacht glüht auf in Kilowatts.
Ein Fräulein sagt heiser: "Komm mit, mein Schatz!"
Und zeigt entsetzlich viel Haut.

Sie wissen vor Staunen nicht aus und nicht ein.
Sie stehen und wundern sich bloß.
Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein.
Sie möchten am liebsten zu Hause sein.
Und finden Berlin zu groß.

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt,
weil irgendwer sie schilt.
Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt.
Sie sind alles so gar nicht gewöhnt.
Und finden Berlin zu wild.

Sie machen vor Angst die Beine krumm.
Sie machen alles verkehrt.
Sie lächeln bestürzt. Und sie warten dumm.
Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum,
bis man sie überfährt.

(Erich Kästner, 1929)

Montag, 23. November 2009

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In der Welt des Chaos sind unsere Mythen vergleichbar mit Lebewesen, die mit derselben 'Kraft' und denselben teleologischen Wünschen auf der Suche nach ihrer perfekten Erscheinungsform sind. Vorausgesetzt Mythen sind unsterblich und ihr Wesen destilliert sich allmählich heraus, dann kann das Chaos-Denken sie aus der abschätzigen Kategorie entheben, in welche die lineare Weltsicht sie zusammen mit Aberglauben, Geschichten einfältiger Hausfrauen und nichtssagenden Märchen steckt, um ihnen einen neuen Ort zu geben. Ihre neue Stellung schließt zugleich ein, dass Mythen verbale Blaupausen der menschlichen Lebensmuster sind. Sie helfen, diese Muster aufrecht zu erhalten, ebenso wie das Leben dazu beiträgt, die Mythen zu bewahren. Wir und unsere Mythen bringen uns gegenseitig hervor.
(aus "Astrologie zwischen Chaos und Kosmos" von Bernadette Brady)

Samstag, 21. November 2009

Durst

Es war ein glühendheißer Tag und brachte einen hartnäckigen, quälenden Durst mit sich. Welch ein unbeschreiblicher Genuß war es, diesen Durst mit dem reinen und klaren Eiswasser des Gletschers zu stillen! An den Flanken jeder großen Eiswoge flossen klare Bächlein in Rinnen hinab, die sie sich selbst genagt hatten; und noch besser, überall wo ein Stein gelegen hatte, war jetzt ein schüsselförmiges Loch mit glatten weißen Wänden und einem Boden aus Eis, und diese Schüssel war randvoll mit so absolut klarem Wasser, daß der flüchtige Beobachter es überhaupt nicht sah, sondern dachte, die Schüssel wäre leer. Diese Brunnen sahen so verführerisch aus, daß ich mich oft ausstreckte, wenn ich gar keinen Durst hatte, und das Gesicht eintauchte und trank, bis mir die Zähne schmerzten. Überall in den schweizerischen Bergen hatten wir den Segen in Reichweite - in Europa nur im Gebirge zu finden - nämlich Wasser, das imstande war, den Durst zu löschen.
(aus "Bummel durch Europa" von und mit Mark Twain)

Freitag, 20. November 2009

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Einer, der uns nüchtern nach unserem Woher und Wohin fragt und uns gegen unseren Willen dahin zurückschickt, wo wir eben davonlaufen wollten, kann ein Bote Gottes, ein Engel sein.
(Sören Kierkegaard)

Mittwoch, 18. November 2009

Albertus Magnus

Aber ehe noch Herz und Füße sich ausgeruht hatten, mußte er wieder Ort und Tätigkeit wechseln. Das Leben hatte den erkannt, der nach ihm suchte: es liebte ihn wieder und bot ihm die Stufen, seine Höhe zu ersteigen, von selber an, zugleich damit das Wagnis und die Schwere...
(aus "Albertus Magnus - Pilger des Herzens" von Wilhelm Schmidtbonn)

Das Buch gibt es übrigens hier gratis als Ebook.

Dienstag, 10. November 2009

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Als ich damals in Venedig war, hatte ich wohl kein Gemälde gefunden, das mich sehr bewegt hätte; aber diesmal gab es zwei, die mich Tag für Tag zum Dogenpalast lockten und mich stundenlang dort festhielten. Eines davon war Tintorettos drei Morgen großes Gemälde im Saal des Großen Rates...
...Ich bin täglich dort hingegangen und nicht müde geworden, dieses großartige Bild zu betrachten. Wie ich angedeutet habe, ist seine Bewegtheit beinahe unvorstellbar stark, die Gestalten singen, hosiannaen, und viele blasen Trompete. So lebhaft drückt dieses Bild Lärm aus, daß Beschauer, die sich hineinvertiefen, fast immer anfangen, ihre Kommentare einander in die Ohren zu schreien und aus gekrümmten Händen Schalltrichter zu machen, weil sie fürchten, sie wären sonst nicht zu hören. Oft sieht man, wie ein Tourist, dem verräterische Tränen die Wangen hinabrinnen, die Hände trichterförmig an das Ohr seiner Frau legt und hindurchbrüllt: "Oh, dort zu sein zu ewigem Frieden!"

(aus "Bummel durch Europa" von und mit Mark Twain)

Tintoretto im Dogenpalast

(Ich finde ja, das die Bilder Tintorettos bis auf wenige Ausnahmen alle ziemlich "laut" sind, selbst wenn man sie nur am Bildschirm betrachtet.)

Sonntag, 25. Oktober 2009

Herbst-Anfang

So achtlos ging der Sommer fort.
Die Gartentüre schlägt im Wind.
Ich dachte, Zeit ist noch,
blühn doch
noch Rosen dort. -
Da war er fort.

Nacktsohlig leichten Schritt
und lichtdurchflirrte Luft,
die Wärme aus dem Mittagstein,
den Rosenduft -
das alles nahm er mit.

Nun steht der andere da,
sagt lächelnd "laß!"
und schüttet einen Sack voll Farben aus.
Es leuchtet brennendbunt ums Haus,
und Pflaumenblau und Birnengelb
liegen betaut im Gras.

(Hildegard Jahn-Reinke, 1906-1995)

Mittwoch, 21. Oktober 2009

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Der Sündenfall, so Adam Eins, war mehrdimensional. Die Primatenvorfahren fielen aus den Bäumen: dann kam der Abfall vom Vegetarismus zur Fleischfresserei. Es folgte der Abfall vom Instinkt zum Verstand und damit zur TechnoIogie; von den einfachen Signalen zur komplexen Grammatik und damit zur Humanität; vom Leben ohne Feuer zum Leben mit Feuer und fortan mit Waffen; und von der saisonalen Paarung zur unstillbaren Triebhaftigkeit.
Dann kam der Abfall vom glücklichen Leben in der Gegenwart zum qualvollen Grübeln über verlorene Vergangenheit und ferne Zukunft.
Der Fall ging immer weiter, doch sein Verlauf führte stetig abwärts. Nach dem Sturz in den Brunnen der Erkenntnis konnte man nur tiefer fallen, mehr und mehr Erfahrungen sammeln, ohne jedoch davon glücklicher zu werden. Und genau so ging es Toby nach ihrer Ernennung zur Eva.

(aus "Das Jahr der Flut" von Margaret Atwood)