Das verlorene Schriftwerk
Weise Zeichen webt der Alte
mit den Händen in die Lüfte,
nun in düstren Kammern walte,
fügend sich, der Geist der Düfte.
Myrrhe, Salbei und Benzoe
strömen engelsgleich hernieder,
zitternd wellt das Haar, das lohe,
rein und hell wie weißer Flieder.
"Hör, was ich dir sagen will,
Sonne, Mond und alle Sterne,
glaub es nur, steh'n niemals still,
deshalb schau sie an und lerne.
Sieh Saturn mit seinen Ringen
auf der kalten Bahn verweilen,
niemand kann die Zeit bezwingen,
noch gäbe es den Grund zu eilen.
Das Kreuze trägt er Jahr um Jahre,
auch des Löwen kühnen Schweif,
denn er ist der Herr, der wahre,
der Erde schönster Schicksalsgreif."
Der müde Magier legt sie nieder,
Falterhände, die sich breiten,
wird sie nicht gebrauchen wieder,
alt die Zeichen, neu die Zeiten.
Gegürtet war ich mit den Gespielinnen des Mondes
und gekrönt mit jenem Silbergreif, dem kühnen,
und ein Wächter wachte über meinen Schlaf,
seine Brust bedeckt ein weißes Tigerfell,
und ich weinte, denn mein Freund war der Tiger
(und der Wächter mein Feind).
Getragen hat er mich über Steppen bis zum Horizont,
wo mein Vater saß, auf seinem Thron von Türkisen,
zu seiner rechten den Stab um zu Richten,
zu seiner linken die Feder zu Dichten,
zu seinen Füßen die dunkle, schwarze Nacht,
und ihn erschlug.
Sein Blut strömte in die untergehende Sonne
und die Türkise glänzten wie die stille See,
ein Feuer leuchtete, ungekannt, ungenannt,
dort wo die Schlange sich auf Wurzeln wand,
dort fand man mich und gab den Schleier mir,
den schwarzen.
Der wurde zu dem Himmelszelt, in dem ich ruhte
und der Wächter behütete meinen Schlaf,
so herrlich kleidete ihn das weiße Tigerfell,
dass ich ihn trug wie eine Blume in meinem Haar,
so schlief ich ruhig, ich Treuelose,
und träumte von Sibir.
Mein Kleid soll aus Tulpenblüten sein -
sie schimmern wie der Mond,
der stille durch das Fenster fällt,
in deinen blankgeküssten Lippen glüht.
Mein Kleid soll aus Tulpenblüten sein,
wenn ich gehe singen sie,
wie der Wind im Garten nachts,
zärtlich die Silberbirke zausend.
Mein Kleid soll aus Tulpenblüten sein,
wenn ich schlafe netzen sie
meine Haut mit Morgenkühle,
gleich einer spiegelklaren Quelle.
Mein Kleid soll aus Tulpenblüten sein
wenn ich durste neigen sie
ihre Kelche zu meinem Mund
und laben mich mit süßem Nass.
Mein Kleid soll aus Tulpenblüten sein
wenn ich dich liebe dann fallen sie,
wie vom Sturm zerpflückt,
leuchtend auf deine Wege.
Vorübergehend geschlossen,
Eintritt nicht erlaubt -
Wenn du fliegen willst,
so flieg alleine,
doch vergiß nicht
deine Schwimmflügel,
die dich sicher tragen
im Meer der Eitelkeit.
Ich folge dir, sobald ich kann
und der Garten wird kein Garten mehr sein
und der Mensch kein Gott,
aber die Lieder werden da sein,
die ich sang,
als ich vom Himmel stürzte.
Wie würd ich Sterne pflücken gerne,
wie reicht mein Blick so weit,
wenn die großen Wasser
lautlos sich vermählend
mit der Unendlichkeit,
fließen mit der Erde Atem
den Gegürteten umarmend,
fliehen mit der Winternacht
auf der sternverschneiten Straße.
Doch schmerzlich das Genicke neigend
weiß ich ein ums neue:
Unter den Millionen Lichtern,
kalt und ferne, ewiglich,
fand ich nie den hellsten, schönsten,
den wissensten und tröstensten,
den lieblichsten und wärmsten,
fand ich nie den einen,
den einen Stern für mich.
Fabrikneuer Himmel, goldbezogen,
flächenverstärkt und kompatibel,
durchfahre die Straße
der kosmischen Gewässer,
immerfort lockend -
in den Furchen blauer Freiheit
suchte ich vergebens
nach dem Datum
deiner Mindesthaltbarkeit.
Eisiger Wind hatte den tropfenden Tau alten Schnees zu bizarren Formen gefrieren lassen. Buchstaben und Schneeflocken tanzen vor meinen Augen. Das Bahnhofsdach. Ein leises Beben unter meinen Füßen. Es zieht sich hinauf bis in den Magen. Leicht nur, unmerklich. Schwankender Boden. Der Zug kann nicht mehr fern sein. Langsam kommt das Ungetüm gekrochen. Aber es schnauft nicht, nein. Das Zeitalter der Drachen ist vorüber. Widerstrebend hält das gestreifte Untier an. Eine Luke öffnet sich. Zwei Augen richten sich spitzbübisch auf mich herab. Der Zugbegleiter. So nennen sie sich wohl heute.
„Da denkt man, man hat Feierabend, und dann so was!“
Ich grinse höflich und beschließe, diese Bemerkung keinesfalls als eine Ausladung zu betrachten. Nur hereinspaziert. Enge Zugluft. Kabinenmief.
Schnell bugsiere ich den Koffer auf eine der Ablagen über meinem Kopf. Rotäugig grüßt die untergehende Sonne durch die verschlossenen Fenster. Stille Freude kribbelt in meinen Adern. Dies eine Gesicht begegnet mir stets auf das neue, überall, egal wo ich bin. Heimat.
Der Zug setzt sich schweigsam in Bewegung. Ein Geisterzug. Gibt es das? Wie Geisterschiffe nur toter. Heimlich ziehe ich die Sonne hinter mir her. Ein Papierdrachen. Die Leine lang lassen. Konturen verschwinden. Luft kräuselt sich in lautlosen Wellen. Hunderte Kilometer entfernt schwappt ein Zweig auf grünem Wasser. Ein Kind warf ihn hinein. Rannte fort durch den Sand, zu den krummen Tannen, sturmgebeugt.
„Warst du wieder am Strand?“ fragt die Mutter. Das Kind nickt.
Herzensschwer. Spürt die Kindheit gehen. Eine Ahnung von Leid. Heißer Kakao kriecht dampfend in die Luft. Was bleibt sind die Klänge, sind die Gerüche, sind die Farben. Alles übrige ändert sich.
Ein Mann, jung und blondhaarig, auf der anderen Seite des Ganges. Vertrauter Fremder mit gleichem Ziel. Lehnt mit bequemer Lässigkeit in seinen Sitz und liest.
Schwarzer Dampf, schnaubend. Verweinte Frauen halten sich am Taschentuch fest. Männer ziehen in den Krieg. Euphorisches Schlachtvieh. Der Sieg ist unser. Die richtigen Worte und der Massenwahnsinn nimmt seinen Lauf. Solche wissen, wie man mit Emotionen spielt. Alle Regierenden wissen das. Willige Herden. Mähääää!
Ich drücke mich tiefer in den verbrecherisch unbequemen Luxussitz. Würde mich gerne unterhalten jetzt. Woher des Weges? Wie war der Aufenthalt? Unverhoffte Muße. Willkommene Langeweile. Kostbare Antiquität aus früheren Zeiten. Das Kind pustet in den heißen Kakao. Nichts zu tun mehr heute. Das Leben ist lang.
Die Zugfahrt ist es auch und müde blättere ich in einem Magazin mit hochrot glänzenden Bildern, als er mich anspricht, dieser Mann. Wo hab ich ihn gesehen? Auf dem Bahnhof? Ich weiß es nicht. Lächelnd zeigt er mir seine Visitenkarte und behauptet, er wäre von den Janus-Wasserwerken. Bei mir dämmert’s. Warum jetzt?
Ich bedeute ihm, neben mir Platz zu nehmen und vorsichtig lässt er sich nieder, darauf achtend, seinen zerknitterten Trenchcoat nicht zu zerknittern.
„Sie sind eine Nachteule.“ sagt er. „Und Sie der Morgenvogel.“ antworte ich, den die Katze frisst - denke ich. Er hat verstanden. Seine blauen Augen blinzeln müde.
Aus der Manteltasche holt er ein in Zeitungspapier verschnürtes Paket, von welchem ich mich ob seiner Größe frage, warum ich es nicht schon durch seinen Mantel hindurch gesehen habe. Ein Trenchcoat mit ungeahnten Tiefen.
„Nehmen Sie.“ sagt er und legt es in meine Hände. „Von Rotkehlchen als er starb.“
„Er hat zu viel gesungen?“ frage ich, eher eine Feststellung denn eine Frage.
Morgenvogel nickt. „War nicht mehr tragbar.“
Ich erinnere mich an seinen roten Bart und die silberglänzende Brille vor den farblosen, grauen Augen. Freund und Feind in einer Person.
„Was soll ich damit?“
Der Mann, blauäugig, rosenmundig, zuckt mit den Schultern. „Er hatte keine Angehörigen.“
„Und...“ setzt er hinzu, „Sie sollen in seine Fussstapfen treten.“
„Was heißt das? Seine Füße waren mir immer schon zu gross.“ erwidere ich.
„Sie“ stellt er trocken fest, „Sie sollen seine Kontakte weiterverfolgen, ihr Vertrauen erschleichen. Trauer und Rache sind ein gutes Motiv. Sie trauern doch?“
Ich antworte nicht. Fühle nichts außer Bedauern. Bedauern darüber, dass wir uns ein Leben erwählt haben, in welchem wir niemals jemandem trauen durften.
„Ja“ sage ich.
Langsam wickle ich das Päckchen aus und spähe vorsichtig hinein, jedoch darauf achtend, dass niemand sonst etwas vom Inhalt erhaschen kann. Eine kleine Beretta, ein Schlüssel und eine silberfarbene Halskette finden sich darin.
„Ich werde ihr Verbindungsmann sein.“ sagt der Morgenvogel. „Wenn Sie Kontakt wollen, wenden Sie sich an die Janus-Wasserwerke und nennen Sie meinen Decknamen. Steigen Sie in Prag aus und gehen Sie in das Hilton-Hotel, Zi. 234. Dort bekommen Sie weitere Instruktionen.“
„Ist gut.“ sage ich, müde.
Und leise wie ein Schatten ist er verschwunden. Habe ich geschlafen?
Schwer, groß und bedrückend,
furchtbar und berückend,
so ist meine Liebe -
dich einverleibend
stricke ich am Winterkäfig
in dem ich dich zerlieben kann.
Herbst liegt schon in meinen Augen
und Regen ruht in meinem Blick,
das sanfte Grün dem Grau gewichen,
Abschied naht vom Sommerglück
Laub wirbelt schon durch meine Seele,
tanzt in Spiralen mit dem Wind
Die ersten Stürme zieh'n vorüber,
Schwermut mit den Vögeln fliegt
Frost fängt sich schon in meinen Haaren,
die Winterfee webt fern ihr Kleid,
kristalldurchwirkt und nordsternglänzend,
schmückt sie sich für ihre Zeit
Mit reinem Weiß wird sie bald wiegen
das Leben in den kalten Schlaf,
auf stummen Bäumen wird sie tanzen,
auf leisen Spitzen, eisgehüllt.
Merhabe salute, großes Kind,
fürcht' dich nicht, weine nur ein bißchen,
dass du spielen kannst mit ihnen, deinen Tränen,
wie mit kleinen Rinnsalen im Sand,
baue einen Staudamm, wenn du magst,
doch vergiß nicht ihn hinwegzureißen
- mit glitzerhellem Lachen.