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Die alten Tagebücher

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Soldbuch-Forschungen

So ein Soldbuch, wie es mein Großvater besaß, galt zugleich als Personalausweis und enthielt einige wichtige Informationen. Zum Beispiel welchem Truppenteil der Besitzer zugeordnet war, welche Ausrüstungsgegenstände, Zahlungen und Impfungen er erhalten hat, wer seine Angehörigen sind und auch die Untersuchungsergebnisse des Truppenarztes. Ich habe mal versucht, das alles etwas zu entziffern und dachte mir, daß man im Internet noch ein paar Informationen mehr dazu findet. Ich habe mich nicht getäuscht. Mein Opa war im Landesschützen-Ersatz-Bataillon 3, Kompanie Perleberg. Dazu gibt es hier eine ganze Seite und hier. Leider verstehe ich davon nur die Hälfte, da ich militärisch völlig ungebildet bin. Das war noch nie auch nur ansatzweise ein Interessengebiet von mir.
Die Truppenärzte haben, ebenso wie die heutigen Ärzte es noch tun, kryptische Abkürzungen verwendet, aber auch dafür gibt es ja Internet. Zuerst schaute ich allerdings mangels anderer Treffer in eines der heutigen Abkürzungsverzeichnisse und fand die Afrikanische Schlafkrankheit. Diesen Befund konnte ich wohl verwerfen und nach etwas weiterem Suchen fand ich diese Forumsseite, in der man alle damaligen Wehrmachtsabkürzungen findet. Daß diese Abkürzungen stimmen müssen stellte ich gleich anhand von U25/2 fest. Denn U25 betrifft die Sehleistung und /2 bedeutet vermutlich an beiden Augen. Die männliche Linie meiner Familie ist durchweg extrem kurzsichtig. Der andere Befund B56 bedeutet Wasserbrüche. Nun wußte ich nicht, was Wasserbrüche sind, denn ich kannte bisher nur Leistenbrüche oder Wasserrohrbrüche, weshalb ich mich auch da erst kundig machen mußte, und ich muß sagen, das sind dann so Sachen, die man über seinen Großvater nicht wissen möchte. Letzten Endes hat ihn wohl dieses U25 gerettet, denn im Krieg sind Gruppen A und B kriegsverwendungsfähig (k.v.), aber die Gruppe U ist nur arbeitsverwendungsfähig (a.v.). Und genau als a.v. wurde mein Großvater vom Truppenarzt deklariert, was für ihn bedeutete, daß er nicht direkt an die Front geschickt werden konnte, sondern

"Arbeitsverwendungsfähig: Der Wehrpflichtige ist
a) bei allen Stäben, Dienststellen, und Truppenteilen in der Heimat als Ausbilder und im Wachdienst,
insbesondere aber in Geschäftszimmern, Schreibstuben, Küchen, Werkstätten,
Kammern, Ställen, in der Verwaltung, als Ordonnanz usw. verwendbar sowie
b) bei Einheiten wie Stabskompanien, Standortbataillonen, bzw. Kompanien z.b.V. usw.,
und anstelle fehlender Angestellter und Arbeiter bei Wehrmachtsdienststellen in der Heimat
(Verwaltungseinheiten ausgenommen)."

Er war dann als nächstes in der 2./Standort-Komp. z.b.V., Stellv. Gen. Kdo. III. A.K. - ich übersetze mal: 2. Standort-Kompanie zur besonderen Verwendung, Stellvertretendes Generalkommando III. Armeekorps. Und dazu gibt es ebenfalls einige Informationen im Internet:

"Der Befehlshaber im Wehrkreis III wurde bei der Erweiterung der Reichswehr am 1. Oktober 1934 in Berlin, im Wehrkreis III, aufgestellt. Der Stab wurde aus dem Stab der 3. Division der Reichswehr gebildet. Das Generalkommando wurde als territorialer Stab für den Wehrkreis III zuständig. Die Bezeichnung war vorerst eine Tarnbezeichnung. Im Frühjahr 1935 wurde er Stab dann in Generalkommando III. Armeekorps umbenannt. Am 26. August 1939 wurde das Generalkommando mobilisiert. Dabei bildete es am alten Standort das Stellvertretende Generalkommando III. Armeekorps."

"Das Stellvertretende Generalkommando III. Armeekorps wurde bei der Mobilmachung für den 2. Weltkrieg am 26. August 1939 in Berlin, im Wehrkreis III, aufgestellt. Der Stab wurde dabei aus Teilen vom Generalkommando III. Armeekorps gebildet. Der Stab wurde als Befehlshaber vom Wehrkreis III verwendet."

"Der Wehrkreis III umfasste die Regierungsbezirke Berlin, Frankfurt / Oder und Potsdam."


Ich verstehe es so, daß das Generalkommando III. Armeekorps, zuständig für Wehrkreis III, als es mobilisiert wurde (nämlich für den Marsch Richtung Polen) ein Stellvertretendes Generalkommando III. Armeekorps am alten Standort in Berlin zurückließ, welches sich den dortigen Aufgaben widmete. Das erklärt dann, warum mein Großvater in Berlin gefangengenommen wurde.

Soldbuch Tauglichkeitsuntersuchungen

Sonntag, 26. Oktober 2014

Tagebuch eines russischen Kriegsgefangenen

Mein Großvater machte diese Tagebuchnotizen während seiner russischen Kriegsgefangenschaft. Interessanterweise ist das die einzige Zeit seines Lebens in welcher er Tagebuch führte:

Meine Gefangenschaft.
Am 2.5.45 in Berlin am Stettiner Bahnhof gefangengenommen.
" 3.5.45 nach Übernachtung in einem Kino nach Löhme bei Werneuchen marschiert.
" 5.5.45 nach Strausberg. Unterwegs rote Rüben roh gegessen und Rhabarber vor Durst, abends Kartoffelsuppe gekocht.
" 6.5.45 nach Wriezen; dort entlaust und kahl geschoren.
" 9.5.45 nach Küstrin. Zwischenstation in ? Füße total kaputt, ebenso Schuhe.
""21.5.45 weiter nach Landsberg a.d.Warthe. Dort Entlausung. Übernachtung in Vietz.
""26.5.45 weiter nach Woldenberg/Neumark. Dort wieder Entlausung.

Bin bis 8.6. 3mal entlaust worden, habe aber niemals eine Laus bei mir feststellen können. Vorher unterwegs übernachtet in Friedeberg: 1500 Mann in einer Feldscheune, hockend und stehend, dicht an dicht, war entsetzlich.
Vom 7.-21.6. für meine Baracke im Lager Woldenberg Quarantäne angeordnet. Am 3.6. am Gottesdienst teilgenommen, sonst an Sing- und Bibelstunden. Dies durch Quarantäne erschwert. Verpflegung knapp: 3mal täglich 3/4 Liter meistens dünne Wasser-Kartoffelsuppe, Brot 3-400 Gramm und 1 Eßlöffel Zucker. Habe immer Hunger und bin sehr schlapp. Morgens und abends Appell, meist 1 1/2 - 2 Stunden stehen, strengt mich sehr an. Arbeitsdienst bis jetzt nicht oft. Ein paarmal Balken und Bretter getragen. Wetter meist schön warm. Was ist mit meiner Familie? Die Ungewißheit lastet schwer auf meiner Seele. Gott verhüte das Schlimmste! Gefangenschaft lähmt allmählich Körper und besonders Geist. Man verblödet langsam. Einseitige Ernährung (kein Gramm Fett) bringt körperlich herunter. Kameradschaft nirgends mehr zu finden. Einer gönnt dem ändern die Luft nicht. Deutschlands letzte Armee war auch danach. Führerschaft hat geschlemmt, der Landser nichts bekommen. O armes Deutschland! Warum mußte das so kommen? Am 10.6. Gottesdienst besucht. Predigt ausnehmend gut, hat mich wieder etwas aufgerichtet. Abends Boxkampf und Fußballspiel angesehen, roher Sport! Kleine Kapelle hat ganz gut gespielt. Das Schlafen eng zusammengepfercht auf den harten Pritschen ist furchtbar, besonders bei großer Hitze. Heute am 13.6. habe ich große Wäsche. Früh Brot geholt. Es gab keine Suppe, sondern sehr fragwürdigen Kaffee. Enderfolg: Hunger, und Brot reicht bis abend nicht aus. Vielleicht ist das Mittagessen dafür dicker. Ja, es war dicker! Sehr gut, viel Fleisch. Wenn's doch immer so wäre! Und dann noch Nachschlag, endlich mal satt! Aber nicht dauernd an's Essen denken. Die Kameraden haben sowieso kaum ein anderes Thema. Hunger tut weh; schlimmer aber ist der geistige Hunger, der Hunger nach Gottes Wort. Wenn ich nur mein neues Testament hier hätte. Vorgestern abend die Katechismusstunde hat mich tief beeindruckt. Gestern am 13.6. keine Bibelstunde, Wetter zu schlecht. Heute ist Kammermusikabend, leider keine Karte mehr bekommen. Vielleicht kann man draußen am Fenster etwas lauschen. Bin nun doch noch hineingekommen. Nach langer Zeit wieder mal ein musikalischer Hochgenuß! Programm: 1. Corelli, Duo für 2 Violinen mit Klavierbegleitung, 2. Rob.Schumann, "Des Abends" für Klavier (Prof.Daubitz), 3. Schumann, Sonate für Violine und Klavier a-moll op.105 4. Senig, 6 Bauernlieder für Bariton (Komponist anwesend, Sänger vom Dt.Opernhaus Berlin), 5. Brahms, Sonate für Violine und Klavier d-moll op.103, 6. Mendelssohn, "Wer hat dich du schöner Wald" (Lagerchor).
Es war sehr schön. Wehmütige Erinnerungen an mein Musizieren zu Hause. Ob mein Klavier noch dort und noch heil ist? (Anmerkung: Klavier ist bei der Befreiung von den Russen beschlagnahmt worden.)
15.6. Nichts besonderes. Wilde Parolen laufen um: Entlassung, Transport nach Rußland oder in ein anderes Lager nach Deutschland, Arbeitseinsatz usw. Gott gebe, daß der Tag der Freiheit nicht mehr fern ist! Heutige kirchl. Singestunde nicht besuchen können, da es erst kurz vorm Zapfenstreich Essen gab. Hoffentlich kann ich morgen zur Wochenschlußandacht gehen.
16.6. Nichts besonderes. Die Andacht abends war sehr schön
17.6. Sonntag. Große ärztliche Untersuchung. Bin bei den Kranken und Älteren, die hier bleiben. Andere sind in Tauglichkeitsziffern 1, 2 und 3 eingeteilt und werden per Bahn verladen. Wohin? Es heißt: zu Aufräumungsarbeiten, Instandsetzung von Brücken und Verkehrsverbindungen. Überhaupt soll das hiesige Lager bis Ende Juni geräumt sein. Demnach müßten wir ja auch noch wegkommen. Wieder eine Parole! Durch die Untersuchung bin ich leider um den Gottesdienst gekommen. War dann zur Abendandacht. Superintendent Draheim sprach über einen Text aus Jesaja: Uns kann geholfen werden, wir müssen aber umkehren, still und geduldig sein und auf Gott hoffen. Nicht, daß wir selbst unser Schicksal wenden wollten oder dagegen aufbegehren. Wir können nichts, nur der Allmächtige kann uns helfen. Haben wir nicht auch unseren Zusammenbruch selbst verschuldet? Haben wir uns nicht abgewendet von Gott in wahnwitziger Verblendung, vielleicht durch die Anfangserfolge hervorgerufen? Und haben wir nicht unsere Führung bald selbst wie Gott angebetet und war unsere Führung nicht vermessen genug, sich selbst göttliche Befugnisse anzumaßen? Ich bin der Herr Dein Gott, Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Und Gott läßt sich nicht spotten. Gott hat daher seine Hand von uns abgezogen und uns abermals ins Unglück gestürzt und diesmal gründlich. Ganz Deutschland mußte erst zerstört werden wie im 30jährigen Krieg. Ob das Volk nun Gottes Hand spürt und zu ihm zurückfindet? O Herr, schick uns doch den rechten Mann, dem es gelingt, durch predigen Deines heiligen Wortes unser Volk zu Dir als unserm lieben Vater zurückzuführen. Dann wirst Du uns auch Deine Hilfe nicht versagen und alle Wunden wieder heilen und unser Vaterland zu neuer Schönheit erblühen lassen.
18.6. Nichts besonderes. Abends zum Operetten- und Liederabend gewesen. Mit Ausnahme von einigen netten Sachen von Nicolai, Leoncavallo, Künnecke, Lehar war alles ziemlich seicht und für die große Masse der Schlagerfreunde zugeschnitten. Von der Abendandacht hätte ich bestimmt mehr gehabt.
19.6. Heute schon wieder Umzug von Baracke 14 nach Baracke 6. Abends Andacht.
20.6. Mütze fertig bestickt, Buch angefangen zu lesen. Nachts Kar­ toffeln geschält bis früh 5 Uhr. Kein Nachschlag bekommen.
21.6. Buch zu Ende gelesen, bin schon müde, gehe aber noch zur Bibel­ stunde.
22.6. Heute in der Sonne gelegen, dann nach Karte für Klavierabend an­ gestanden, dadurch Entlausung verpaßt, Morgen Klavierabend, Sonntag abend Fortsetzung von Sup.Draheims Vortrag "die Umwelt Jesu". Hoffentlich kann ich beides hören. Heute vormittag Katechismusstunde über die 3 ersten Bitten des Vaterunser vom Lagergeistlichen cand.theol. Ernst Allwang besucht. Bin augenblicklich wieder so verzweifelt. Wie wird es meinen Lieben gehen? Und wie wird sich Gretel(Anmerkung: meine Großmutter) um mich sorgen? O, lieber Gott, beende doch bald meine Gefangenschaft und führe alles zum Guten! Doch ich will nicht zweifeln, sondern fest auf Gott vertrauen. Ich weiß, daß er mich nicht verlassen wird!
23.6. Heute den ganzen Tag Kartoffeln geschält. Es gab einen Nachschlag. Abends Klavierkonzert besucht. Prof.Daubitz spielte meist unbekannte kleine Stücke. U.a. vom 4 - 14jähr.Mozart, dessen Schwester und ältesten Sohn. Ferner von Scarlatti, Rameau, Couperin, Debussy, Phil.Emanuel Bach und einigen Russen wie Liadoff, Prokoffieff usw. Als Zugabe Franz Liszt "Waldesrauschen". Die Stücke waren meist aufs Virtuose zugeschnitten, tieferen Gehalt vermißte ich leider. Trotzdem war der Abend sehr interessant und genußreich, hörte ich doch mal mein Lieblingsinstrument solo! Der benutzte Flügel hat einen schönen vollen Klang.
24.6. Sonntag. Den 9 Uhr Gottesdienst von P.Allwang und den 12 Uhr-Gottesdienst von Sup.Draheim besucht. Namentlich die Predigt von Sup.Draheim hat mich wieder tief erschüttert, so daß mir die Tränen kamen. Wäre der Krieg anders ausgelaufen, hätten wir vielleicht eine Zeit gut gelebt, aber leer, ein Leben ohne Seele. Dann wäre das Nichts gekommen, unser Volk wäre in einem fürchterlichen Zusammenbruch total versunken. So aber will uns Gott noch einmal auf den rechten Weg zurückführen, indem er uns in unser jetziges Elend stürzte. Kommt das Volk zur Besinnung, kehrt zu Gott zurück und bittet Ihn um Hilfe, wird Er uns seine Gnade nicht versagen. Der Vortrag von Sup.Draheim über die Umwelt Jesu mußte wegen des langen Appells leider wieder ausfallen. Er soll nun am Mittwoch 17 Uhr stattfinden. Hoffentlich kann ich ihn hören.
25.6. Letzte Nacht besser geschlafen als sonst; heute Regentag. Wenn ich nur mal etwas zu lesen hätte. Wetter hat sich wieder gebessert. Habe genäht, gestopft, Beutel aus Taschentuch genäht usw. Zum Clubhaus gegangen, Schwalben beobachtet. Dabei sprach mich Prof.Daubitz an und unterhielt sich mit mir über den Spreewald. Habe ihm dabei gleich eine Karte für den Schubertabend am 26.6. abgeluchst.
26.6. Heute ab Mittag 12 Uhr Kartoffeln geschält. Muß abends Essen holen. Hoffentlich ist der Appell zeitig zu Ende, damit ich noch recht­ zeitig zum Schubertabend komme, zumal meine Gruppe heute mit Nachschlag dran ist. Vielleicht bekomme ich mittags schon meinen Nachschlag. Heute vormittag leichtsinnig gewesen: das ganze Brot und noch die Hälfte des aufgesparten Reservebrotes gegessen. Hatte mächtigen Hunger und muß ab morgen wieder mehr einteilen. Richtig satt wird man ja nie. Für Kartoffel schälen gab's 15 ganz kleine Pellkartoffeln. Den Nachschlag gab's erst abends, es war schön dickes Essen. War mal richtig satt. Der Schubertabend war sehr schön. Allerdings hatte sich der Sänger (Opernsänger Krusenbaum vom Deutschen Opernhaus Berlin) arg verhauen. Er sang u.a. "Du bist die Ruh", "Am Meer", "Die Post", "Wohin", "Der Neugierige", "Ungeduld", "Der Wanderer", "Aufenthalt". Der Klaviervirtuose Meyer-Marko spielte spielte die Impromptus As-dur und Es-dur sehr brillant, aber etwas seelenlos. Der Lagerchor unter Daubitz sang das "Sanctus" himmlisch schön, sowie zwei mir noch unbekannte Chöre von Schubert. Zum Schluß ein Volkslied von Edgar Wünsch, Satz von Prof.Daubitz;auch sehr schön. Alles in allem wieder ein musikal. Genuß.
27.6. Heute früh beim Appell gab's gleich ein Gewitter, danach tüchtig Regen bis gegen 11 Uhr. Unsere Kompanie soll heute ärztlich untersucht werden, aber daraus ist nichts geworden. Nachmittags Vortrag von Sup. Draheim gehört. War sehr interessant und lehrreich. Nachher setzte wieder starker Regen ein, so daß der Appell ausfallen mußte.
28.6. Heute sehr kühl und stürmisch; nach dem Appell wieder Regen. Von 10 bis 13 Uhr geschlafen. Hoffentlich bessert sich das Wetter bis zum Abend zur Bibelstunde. Das Wetter wurde aber immer schlechter, so daß Abendappell und Bibelstunde ausfallen mußten.
29.6. Heute nichts Besonderes. Nachmittags Fußballspiel zugesehen, Nachts sollen wir Kartoffeln schälen. Brief an Gretel geschrieben, um Entlassenen mitzugeben; ist aber noch nichts draus geworden.
30.6. Von gestern abend 1/2 10 bis heute früh 5 Uhr Kartoffeln geschält. Heute gab's auf 100 Mann 22 statt sonst 19 oder 20 Brote. Heute hat mein lieber W. Geburtstag (Anmerkung: Bruder meines Vaters). Gott gebe, daß er noch lebt und gesund ist und bleibt. Wann werde ich ihn wiedersehen? Meine Gedanken wandern nach Hause und im Geist gebe ich meinem Liebling einen herzhaften Geburtstagskuß. Nachmittag war die ganze Kompanie zum Varietê. Manches war ganz schön, manches albern und blöde. Habe leider meinen Kopierstift verloren, hier ein schmerzlicher Verlust. hat sich zum Glück wieder angefunden. Durch das späte Essen leider zur Wochenschlußandacht nicht mehr zurechtgekommen.
1.7.Sonntag. Heute im Gottesdienst Pfr. Allwang; Kantor Homann hat die Choräle am Flügel begleitet. Schöne Vorspiele. Predigt gut gefallen, über Jeremia, daß wir durch Gottes Güte nicht garaus sind. Vergleich, wie Israel von Gott abgefallen und dafür in alle Welt zerstreut und in Gefangenschaft geführt wurde, so auch das deutsche Volk. Es ist aber gut, daß Gott unser Volk noch straft; er wird ihm auch seine Gnade wieder zuwenden. Das Volk, das Gott gar nicht mehr straft, nicht beachtet, zu dem er nicht spricht, ist früher oder später endgültig verloren. Gott ist aber nicht nur ein zürnender, sondern auch ein gütiger Gott.
Den 2.Gottesdienst Sup.Draheim auch besucht. Seine Predigt hat mich wieder sehr erschüttert. Sprach über Petri Fischzug. Vieles, was er sagte, traf auf mich besonders zu und war mir aus der Seele gesprochen. Wenn mich Gott glücklich zu meinen Lieben heimkehren läßt, so will ich fortan ein anderes Leben führen und mit meiner Familie nach Gottes Wort leben und die Kinder im christlichen Glauben erziehen. Dazu bitte ich den Herrn und Heiland um seine Hilfe u. seinen Segen.
2.7. Bei schönem Wetter soll nachmittags eine Missionsstunde sein, in der ein Missionar über seine Tätigkeit in Ostafrika sprechen wird. Hoffentlich kommt das Essen zeitig, damit ich dort auch hingehen kann. Habe die Missionsstunde besucht. Der Vortrag des Missionars, selbst Sohn eines Missionars und in Ostafrika geboren, von Engländern interniert und später ausgetauscht, war sehr interessant. Vorher las der Gemeinschaftsleiter aus der Apostelgeschichte. Das Schlußgebet - ergreifend wie immer - sprach Sup.Draheim, der mir, je öfter ich ihn höre, immer lieber wird und besser gefällt. Er spricht so lebendig u. so zu Herzen gehend, während cand.Allwang noch zu schulmäßig und suchend, dogmatisch und etwas trocken spricht.
Trotzdem sind seine Predigten ebenfalls von tiefen Gedanken erfüllt. Draheim höre ich am liebsten. War noch zur Abendandacht von Allwang, der über die Halbjahreslosung "Lasset uns aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender des Glaubens“ sprach. Ein schöner Sonntag, der mir viel gegeben hat, mein Herz ruhig im Gottvertrauen gemacht hat und für den ich Gott herzlich danke.
3.7. Heute vormittag zur Entlausung, die an sich nicht nötig wäre, da ich keine Läuse habe. Aber das damit verbundene Duschen ist sehr angenehm. Zum heutigen Konzertabend leider keine Karte mehr bekommen. Hoffentlich zu morgen, beim Kirchenmusikabend. Habe draußen am Fenster etwas gelauscht. Auch die Beethoven-Sonate E-Dur op.14 wurde gespielt. Habe eine Karte zur geistlichen Abendmusik bekommen und freue mich schon. Hoffentlich kommt nichts dazwischen. Da Baracken wegen erwarteter Kommission, die nicht kam, gesperrt waren, lange spazieren gegangen und mit Stabsfeldwebel Georg Siegmann, einem gläubigen Christen, angenehm unterhalten. Mittags Essenholer gewesen. Die geistliche Abendmusik war herrlich, Zwischendurch Lesungen aus der Heiligen Schrift; alles in Form einer Andacht. Es war für mich wirklich eine große Erbauung, wofür ich Gott dankbar bin. Wenn ich nicht die Gottesdienste, Bibelstunden und guten Konzerte hätte, würde ich hier seelisch zu Grunde gehen.
4.7. Ziemlich kaltes Wetter. Sollen heute wieder Kartoffeln schälen; aber am Tage. Heute mittag war in der Kartoffelsuppe statt Fleisch Hering, allerdings sehr wenig. Suppe sehr dünn; hat mir aber gut geschmeckt. Wenn es nur mehr geben würde. Von 12 bis 18 Uhr Kartoffeln geschält. Spät abends 18 ganz kleine Pellkartoffeln bekommen.
5.7. Heute Regentag. Früh beim Appell total naß geworden. Habe besonders durch das zerrissene Schuhzeug zu leiden. Heute mittag wieder Fisch; soll nicht Hering sondern Weißfisch sein. Der ölige Geschmack soll von Sonnenblumenöl sein. Essen war schön dick, konnte etwas Brot zur Reserve aufsparen. Abends Nachschlag bekommen und satt geworden.
6.7. Heute wieder Regentag. Wenn ich nur was zu lesen hätte. Kameraden ungefällig, borgen ihre "organisierten" Bücher nicht. Wollen am liebsten Brot oder Zucker dafür haben. Kann ich natürlich nicht geben. Abends zur katholischen Abendandacht gewesen. Der musikalische Teil ebenso wie bei der evangelischen. Die Ansprache des katholischen Geistlichen war nicht hervorragend. Unsere beiden evangelischen Geistlichen sind ihm darin haushoch überlegen.
7.7. Nichts besonderes. Seit 2 Tagen ist das Essen sehr dünn, so daß man überhaupt nicht mehr satt wird. Allerdings gibt es früh statt Kaffee wieder Suppe; wenn sie nur mittags und abends dicker wäre.
8.7. Sonntag, erst um 7 Uhr Wecken. Heute wieder beide Gottesdienste besucht. Der 2. mit Sup.Draheim hat mich wieder besonders ergriffen: 12 Jahre lang hatten wir keine Zeit, über unsere Seligkeit nachzudenken. Jetzt hat uns Gott mit der Gefangenschaft Zeit genug dazu gegeben. Mit diesem furchtbaren Kriege hat uns Gott laut und vernehmlich gerufen. Möchte doch das ganze Volk ihn hören und zu ihm zurückfinden! Die Gottesdienste hier sind immer sehr stark besucht; wird es später in der Heimat so bleiben? Gott schenke uns baldige Heimkehr. Mein ferneres Leben will ich ganz nach Gottes Wort und Gebot führen. Dazu verhelfe mir mein Herr und Heiland!
Nachmittags Musik alter Meister gehört. Vortrag mit Professor Daubitz und anderen Künstlern war sehr schön. Daubitz hat zwischendurch Fragen an die Hörer gestellt, was bei dem betreffenden Stück besonders auffällt oder gefällt. War sehr interessant. Habe meine Adresse einem Forster gegeben, der bald entlassen zu werden hofft. Er will eine Karte an Gretel schreiben, daß ich noch gesund bin.
9.7. Habe meine ganze Brotreserve aufgegessen. Durch die fettarme und wenige Kost hat man dauernd Hunger. Heute Sonnenfinsternis. Leider nicht beobachten können, da kein farbiges Glas. Abends zum Liederabend, war sehr schön. U.a. Beethoven "Adelaide", Mozart, Schubert, Schumann: "Im wunderschönen Monat Mai", "Aus meinen Tränen sprießen", "Der Nußbaum". Mussorgski's Lied für sein verstorbenes Kind sehr interessant. Ebenso einige Stücke von Paderewski für Violine und Klavier. Ferner "Willst du dein Herz mir schenken"; soll nicht von Bach sondern von einem Italiener sein. Der Chor sang "Heilige Nacht, o gieße du" (Beethoven)und Chor der Zigeuner "Die Sonn erwacht" aus Preziosa von Weber.
10.7. Früh wieder Wassersuppe geholt. Wann werde ich mich mal richtig satt essen können? Heute wieder mal in der Sauna gewesen zur Ent­ lausung. Will heute einweichen und morgen waschen: Hemd und Unterhose.
11.7. Heute vormittag gewaschen, schön weiß geworden. Bis zum Esssn nach 15 Uhr alles trocken. Wetter schön warm, ganzen Tag ohne Hemd in der Sonne. Um 17 Uhr zur Bibelstunde, die mich sehr ergriffen hat. Der Gemeinschaftsleiter Allwang und vor allem Draheim haben ganz wundervoll gesprochen; Draheim hat sich selbst übertroffen. Erinnerte mich heute an Luther, habe wieder viel Trost gefunden. Unsere Gebete für unsere Lieben mögen in Gottes Herz dringen, und die Gebete unserer Lieben für uns ebenfalls; sie mögen so eine Brücke zwischen uns bilden und unsere Seelen vereinigen.
12.7. Sehr heiß! Ganzen Tag in der Sonne! Strümpfe gestopft. Sonst nichts besonderes.
13.7. Wieder ganzen Tag in der Sonne gelegen und Wollgarn von der Decke abgemacht und aufgeräufelt. Habe nun wieder was zum Stopfen und Nähen. Sonst keine besonderen Ereignisse. Doch, das Essen wieder dicker.
14.7. Vormittag Kartoffeln geschält. Nachmittag Futter aus dem Mantelärmel getrennt. Will daraus Badehose machen. Zwischendurch Fußball zugesehen. Kamerad Walter Beug aus Berlin, mit dem ich angefreundet, will mich in Burg mal besuchen. Wollen hoffen, daß es bald mal geschehen kann. Richard Petermann, der Dritte in unserem Kleeblatt, freut sich schon wieder zu morgen früh auf seinen "Mohnkuchen", so nennt er unser Kleiebrot mit Zucker bestreut. Schmeckt übrigens nicht schlecht; allerdings nur frisch. Gute Nacht, liebes Frauchen!
15.7. Sonntag! Herrlicher Sonnenschein! Die Lerchen jubilieren; sie sollen meinem lieben Gretel einen herzlichen Morgengruß singen! Die beiden Gottesdienste waren wieder sehr erhebend für mich. Im 10 Uhr-Gottesdienst spielten 2 Kameraden das 1.Präludium aus Bachs "Wohltemperiertem Klavier" mit der Violinstimme von Gounod und das "Ave Maria" von Schubert. Im 12 Uhr-Gottesdienst auf dem Appellplatz sprach Sup. Draheim (Dirschau) wieder besonders zu Herzen gehend. Wie ein 2. Martin Luther stand er vor uns. Gott schenke unserem Volk mehr solche Prediger, die im Land umherziehen müßten, um das Volk zu Gott zurückzurufen und wachzurütteln. Mehr noch, es müßte ein Mann im Volk erstehen wie ein Prophet oder wie Luther, dem es gelingen müßte, unser Volk wieder zu Gottes Volk zu machen und vorher zur Buße zu rufen. Wir mußten ja von Gott verstoßen und geschlagen werden, da Volk und Führung von Gott abgefallen waren, und auch die Kirche zum Teil versagte. Aber ich spüre es, daß sich jetzt auch in der Kirche neue Kräfte rühren werden. Ich selbst bin so ruhig und froh geworden, daß ich zu Gott und meinem Heiland zurückgefunden habe und bitte ihn täglich, er möge mir meinen früheren Abfall von ihm und meine Sünden vergeben.
Heute an meinem aufgesparten Brot und Zucker richtig satt gegessen. Nun weiß man wenigstens wieder, wie es ist, wenn man richtig satt ist.
16.7. Heute wieder mal entlaust und geduscht. Durch das viele Entlausen gehen nur die Sachen kaputt. Abends zum Grieg-Konzert. Es gab u.a. "Tempo di Minuetto" für Violine und Klavier, "Landerkennung", "Letzter Frühling", "Ich liebe dich", "An den Frühling", "Erotik", "Ases Tod", "Anitras Tanz", "Solveigs Lied", "Hochzeitstag auf Troldhaugen" und "In der Halle des Bergkönigs". Es war sehr schön. Abendessen war sehr dick.

(Tagebuchnotizen vom 17.7. bis 26.7. verloren gegangen.)

26.7.(Fortsetzung) Um 11 Uhr die Oder bei Fiddichow überschritten. Gott sei gedankt, daß uns der Pole nichts mehr anhaben kann. Ankunft in Schwedt 19 Uhr. Dort Transporte zusammengestellt, immer 21 Mann. Mußte Transport nach Berlin nehmen. Nach Cottbus kamen nicht soviel zusammen. Russische Begleitung von Schwedt an fortgefallen.
27.7. Abmarsch 5 Uhr nach Angermünde. Landschaftlich sehr schön, immer bergig, 20 Kilometer. Ankunft dort gegen 13 Uhr. In Angermünde mußte jeder eine Fahrkarte kaufen, 2,90 RM. Mir hat eine Frau eine gekauft, da ich keinen Pfennig Geld hatte. Abfahrt auf dem Dach eines Schnellzug-Wagens um 16,30 Uhr, Ankunft in Berlin um 22,15 Uhr. Fahrt über Eberswalde landschaftlich sehr schön. In Berlin im Stettiner Bahnhof übernachtet.
28.7. Vom Rosenthaler Platz mit der U-Bahn zum Görlitzer Bahnhof ge­ fahren. Dann mit der Straßenbahn nach Schöneweide und dort um 11 Uhr mit Güterzug im leeren Kohlenwaggon bis Lübbenau. Im Kohlenwagen übernachtet und um 5,15 Uhr zu Fuß nach Burg, wo ich um 10 Uhr ganz erschöpft eintraf. Das Wiedersehen mit Gretel und den Kindern war erschütternd. Gretel hat mich erst nicht erkannt, so heruntergekommen sah ich aus. Nun danke ich dem allmächtigen Gott, daß er mich durch seine Gnade und Güte wieder mit meinen Lieben zusammengeführt hat, und vor allem, daß ich sie gesund angetroffen habe.


Dies ist das Soldbuch meines Großvaters. Die schräge rote Notiz ist in Russisch.

Soldbuch meines Großvaters

Sonntag, 12. Oktober 2014

Lektüreempfehlung meines Urgroßvaters

Sonnabend den 24/1. 1880
Am Montag Abend war ich zum Verein, am Dienstag habe ich und unseren liebe Freunde (A. H., A. K., C. R., W.W.,W.G.) wieder, wie am 13. unsere Lieder aus dem Vereinsliederbuch gesungen. In der Missionsstunde in der Kirche am Mittwoch sprach Herr Sup. Glotzke über den Glauben der Indianer und Inder von dem Leben nach dem Tode. Am Donnerstag Abend waren Pavels, W. Sch., E. Sch. und E. Dietz zum Besuch bei uns, am Freitag Abend besuchte ich H. Pavel. Im Lesen des Handbuchs der Bibelerklärung, welches wir Aug. zu Weihnachten geschenkt haben, bin ich jetzt bis zur Gesetzgebung auf Sinai gekommen; es ist dies ein sehr gutes Buch und habe ich dasselbe gern gelesen, da es viel zum Verständniß der heiligen Schrift beiträgt. Die Erzählung “Werbelow” habe ich gestern auch zu Ende gelesen, worin (?)Episoden aus den Kämpfen der Deutschen gegen die Wenden geschildert werden.


"Werbelow" von Otto Brennekam bei Google-books:
http://books.google.de/books/about/Werbelow.html?id=HKPdtgAACAAJ&redir_esc=y

Die historischen Hintergründe zu "Werbelow":
http://2012.schorfheide.info/Chronik_Altenhof.html

Mehr über Otto Brennekam:
http://www.zeitstimmen.de/index.php?page=liste&is_autor=381&l_cat=cat_5&l_item=1&max_item=5&prev=http%3A%2F%2Fwww.zeitstimmen.de%2Findex.php%3Fpage%3Dliste%26is_ort%3D2316

Freitag, 12. September 2014

Die gestohlenen Überzieher

Ein Kriminalstück aus dem Tagebuch meines Urgroßvaters:

Nachdem ich dem Sylvesterabendgottesdienst beigewohnt und meine 3 Neujahrskarten zum Briefkasten besorgt hatte, ging ich mit Eltern und Brüdern zu Pavels, um den Geburtstag des Herrn Pavel und zugleich Sylvester mitzufeiern. Erst nach Mitternacht trennte sich die zahlreiche Gesellschaft.
Am ersten Tage des neuen Jahres wohnte ich dem Nachmittagsgottesdienst bei, in welchem Herr Superintendent Glotzke die Predigt hielt und in derselben die Zuhörer aufforderte, am Anfange des neuen Jahres um dreierlei zu bitten, nämlich um Furcht vor Gott, um Vertrauen auf Gott und um Bekenntniß zu Gott.
Nach der Nachmittagsvereinsstunde des Jünglingsvereins machten wir einen kleinen Spaziergang ins Freie, kehrten dann um und vergnügten uns noch ein Stündchen beim Lotterie- und Dominospiel in unserer Stube. Abends wieder zum Verein, in welchem Herr Elberling außer verschiedenem Anderen die Fortsetzung einer Geschichte über die fünfte Bitte vorlas. Vor und nach dieser Stunde wurde mir noch die Freude zu theil, mit Frl. S. aus W., die zum Besuch ganz unerwartet hierher gekommen war, etwas plaudern zu können; ich lernte dieselbe vor Jahresfrist dadurch kennen, daß sie den gleichfalls von Hr. Elberlg. geleiteten Jungfrauen-Verein besuchte; seit August v. Jr. hat sie im benachbarten W. eine Stelle angenommen.
Am Sonntag den 4. predigte im Vormittagsgottesdienst Herr Sup. Glotzke über die Taufe des Herrn Jesu durch Johannes. Nach dem Essen ging ich zu Ad. Kretschmann und machte dann mit demselben einen Spaziergang (Jed. Thor, Turnpl., Berl.-Thor). Nachdem wir nach dem Nachmittagsverein wieder einen kleinen Spaziergang gemacht hatten, ging ich mit Aug. Holstein zu uns, woselbst der Weihnachtsbaum brannte und meine Brüder nebst Freunden und Freundinnen Affenspiel(?) spielten, wobei jedesmal ein Stück vom Weihnachtsbaum zu gewinnen war. Ich selbst spielte mit A.H. Schach, wobei ich Sieger blieb.
In der Missionsstunde am Abend las Herr Elbg. außer verschiedenen Anderem auch einen Aufsatz von Inspektor Plath vor, welcher bei der mit Humor gewürzten Schreibweise desselben vielfach Heiterkeit veranlaßte, und wir Jünglinge sangen: Herr deine Güte u.s.w. Als ich beim Verlassen des Saales meinen Überzieher, den ich in der Vorderstube gelassen hatte, wieder anziehen wollte, wurde ich zu meinem Schrecken gewahr, daß derselbe, sowie auch der des Joh. Böttker nicht mehr da war; es war klar, sie waren während der Stunde gestohlen worden. Der Verdacht lenkte sich sofort auf Tischler Marwitz’ Burschen Struck und Schuhmacher Krügers Burschen Hasselbarth, welche sich beide am Sonntag heimlich entfernt hatten. Wir gingen in der Erwartung sie vielleicht auf dem Bahnhof noch zu kriegen, zweimal dort hin, aber es reiste mit keinem Zuge einer ab. Am Montag hat Herr Elbg. Anzeige bei der Polizei gemacht, jedoch wird wohl keine Hoffnung auf Wiedererlangung der Überzieher sein. Am Montagabend zur Singestunde des Vereins, am Dienstag Abend einen, jedoch vergeblichen Rundgang bei verschiedenen Trödlern wegen der Überzieher gemacht und Mittwoch Abend zur Bibelstunde gegangen.

Donnerstag, 11. September 2014

Aus dem Tagebuch meines Urgroßvaters

Wenn ich richtig gerechnet habe, hat er also mit 14 seine erste Stellung als Schreiber, bzw. Buchhalter angetreten, um sich seine Brötchen selbst zu verdienen. Früher war eben einiges anders. Und über die Berliner Gewerbeausstellung 1879, auf welcher >die erste elektrische Lokomotive gezeigt wurde, gibt es sogar einen >Wikipedia-Eintrag:

Nun war die schöne Jugend- und Schulzeit vorbei und es begann der Ernst des Lebens etwas näher an mich heranzutreten; ich trat in das Comptoir des Mühlenbesitzers Zemlin hierselbst als Schreiber ein, um mir mein Brot selber verdienen zu helfen. Dort gefiel es mir ganz gut, zumal ich in meinem Vorgesetzten, Herrn Karstaedt, einen freundlichen christlichen Mann fand, der mir auch vielfach Gelegenheit gab, meine Kenntnisse zu vermehren, indem er mir nach und nach die ganze Buchführung in dem kleinen Geschäft anvertraute.

Gleich nach meiner Konfirmation trat auch ich, wie meine beiden Brüder schon früher, dem Jünglingsverein des Herrn Elberling bei, in welchem ich viele segensreiche Stunden verlebte. Dort war es mir immer am wohlsten, wenn ich mit lieben Freunden zusammen plaudern, singen und zuhören konnte, und nach den Sonntagsnachmittagsstunden mit ersteren herrliche Spaziergänge in die Umgegend machen konnte, und kann ich es deshalb nicht genug rühmen, wie segensreich solch brüderliches Beisammensein im Jünglingsverein ist. Aber auch in diese schöne Lichtzeit meines Lebens sollten einige dunkle Schatten fallen; dererart unser herzlicher Freundschaftsbund durch einen, zum Glück gewöhnlich nicht lange währenden kleinen Streit zerrissen, oder die Hoffnung, in einem neu hinzugekommenden Jüngling einen lieben Freund gewonnen zu haben, dadurch wieder vernichtet, daß derselbe dem Verein wieder den Rücken kehrte und zur Welt zurückging, und dergleichen mehr, jedoch im Großen und Ganzen genommen war es doch eine schöne herrliche Zeit.

Inzwischen flogen die Jahre dahin und ich mußte auch wieder an mein leibliches Wohlergehen denken, denn das war mir schon klar geworden, daß ich, da ich in meiner damaligen Stellung bei Herrn Zemlin nicht hinreichende Gelegenheit zur Ausbildung in schriftlichen Arbeiten hatte, mich nach einer geeigneteren Stelle umsehen müßte, hatte auch schon zu Anfang des Jahres 1877 den Versuch gemacht, bei der Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn Anstellung zu bekommen, war aber abschläglich beschieden worden; da, wir schrieben September 1879, traf es sich, daß Jemand vom hiesigen Landraths-Büreau, woselbst mein Bruder August seit seiner Einsegnung Stellung hatte, abging und Soldat wurde. Die Stelle war also vakant und brachte mich mein Bruder beim Kreissekretär Berner in Vorstellung, welcher mich auch annahm, und so trat ich denn meine jetzige Stellung am 1. Oktober 1879 an, war also grade vier Jahre im Comptoir des Herrn Zemlin gewesen.

In dem an politischen Schreckensereignissen - man denke nur an die beiden verabscheuungswürdigen Attentate auf unsern geliebten deutschen Kaiser am 11. Mai und 2. Juni - so reichen Jahre 1878 reiste ich am 4. August mit meinen beiden Freunden Herm. Pavel u. Ernst Barnewitz zum ersten Male nach Berlin, um die Hauptstadt des deutschen Kaisers und Preußens auch kennen zu lernen, welcher Reise im August 1879 eine zweite folgte, die aber hauptsächlich der Berliner Gewerbe-Ausstellung galt. Zu Michaelis des ersteren Jahres reiste meine Schwester Louise nach Kassel, um den von ihr angenommenen Dienst bei Herrn Proviantmeister a.D. Deiker daselbst anzutreten.

Samstag, 6. September 2014

Das Tagebuch meines Urgroßvaters

Dieser lebte von 1861 bis 1946 und erhielt das Tagebuch als Geschenk zu Weihnachten 1879. Vermutlich begann er auch zu diesem Zeitpunkt, also um das 18. Lebensjahr herum, darin zu schreiben. Auf der zweiten Seite erzählt er:

"Aus dieser Zeit erinnere ich mich noch recht lebhaft eines Vorfalls, bei welchem ich beinahe mein junges Leben verloren hätte. Da wir nämlich nicht weit von der ? entfernt wohnten, so gingen wir im Sommer öfter dorthin, um uns zu baden. Nun geschah es eines Tages, als wir uns mit noch anderen badeten, - ich war ungefähr neun Jahre alt -, daß ich mich wohl zu weit ins Wasser gewagt hatte, genug, ich verlor den Boden unter den Füßen und schwamm nun ziemlich inmitten des Flusses; ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Da endlich merkten es die anderen, daß ich nicht da war und sahen nur noch die Haare meines Kopfes im Wasser schwimmen, bei welchen mich dann mein Bruder August mit zwei Fingern ans Land zog; noch wenige Minuten und ich wäre tot gewesen, aber es war nicht Gottes Wille, daß es so mit mir ein Ende nehmen sollte."

Tagebuch Urgroßvater

Und hier noch ein Foto dieses Urgroßvaters, allerding bereits im hohen Alter:

Urgroßvater väterlicherseits

Donnerstag, 4. September 2014

Auf Befehl Seiner Majestät des Königs

bezeugt die General-Kommission in Angelegenheiten der Königlich Preußischen Orden hierdurch, daß Seine Majestät dem Totengräber J.G.P. zu R.
das Allgemeine Ehrenzeichen zu verleihen geruht haben. Zur Beglaubigung ist dieses Zeugniß unter unserer Unterschrift und Siegel angefertigt worden.
Berlin, Mai 1888
(nur mit der Lupe zu entziffern)

Ich habe also einen mit Orden dekorierten Totengräber in der Familie. Dieser lebte von 1809 bis 1889 und wurde, wie man hier sieht, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod mit achtzig Jahren, schnell vom König für sein "Lebenswerk" ausgezeichnet. Das handhabt man ja heute noch genauso.

Auf Befehl seiner Majestät des Königs

Mittwoch, 3. September 2014

Historischer Brief vom Ende des zweiten Weltkriegs

Eine ganze Kiste voll uralter Dokumente und Unterlagen aus dem Nachlass meines Großvaters, die im Nachlass meines Vaters gelandet sind, durchwühle ich gerade. Mit darunter Ahnenpässe, Briefe, Zeugnisse, Hochzeitszeitungen, königliche Befehle und einiges mehr. Unter anderem fand ich diesen Brief, offensichtlich von einem Kind nach dem zweiten Weltkrieg geschrieben. Es ist einer der wenigen Briefe aus diesen Mappen, den ich richtig lesen kann, denn der junge Briefeschreiber hat sich wirklich Mühe beim Schönschreiben gegeben:

"Lieber W.!
Sei froh, daß du wieder in eure Wohnung ziehen konntest. Bei uns sind immer noch die Russen drin. Sie haben mir fast alle Spielsachen weggenommen, auch meine Schulmappe...."

Schlimm, schlimm!

Historischer Brief

Mittwoch, 15. Januar 2014

Künstler und ihre Ateliers

Es gibt Orte, die ich besonders gerne mag. Neben magischen Plätzen in Land oder Stadt, wie zum Beispiel der Elfenwald oder die Gegend um den Reichstag herum, gehören dazu auch Künstlerateliers. Sicher geht dies auf meine Kindheit zurück, in der ich regelmäßig ein solches besuchte. Alles fing damit an, daß meine Mutter mich im Alter von vier oder fünf Jahren an die Hand nahm und mit mir zu einer mit ihr befreundeten Künstlerin ging. Diese Besuche wiederholten sich ab da meist wöchentlich und auch, wenn es sich die ersten Male nur um Kaffeekränzchen handelte, waren diese Treffen bereits sehr aufregend für mich, was nicht nur an dem steinernen Elefanten lag, dessen man auf einem Spielplatz am Wege ansichtig wurde und auf dessen Rüssel man herunterrutschen konnte. Noch viel interessanter fand ich im Grunde die Wohnung der Künstlerin. Sie lebte in den Prenzlauer Bergen auf einem Hinterhof in einer Souterrain-Wohnung. Genauer gesagt waren es zwei gegenüberliegende Wohnungen, aber die zweite Wohnung diente ausschließlich als Lager, in welchem wundervolle Schätze aus ihrer Produktion lagerten. Wenn man die Wohnung betrat, mußte man zuerst einige Treppenstufen in den Flur hinuntersteigen. Schon der Geruch, der mir dort entgegenkam, war sehr anders als alles, das ich kannte. Es war so eine Mischung aus Papier, sehr viel Papier, und etwas modrig nach Keller und Leim. Die Küche sah mehr wie eine Werkstatt aus, denn sie hatte dort, weil sie nicht nur Grafiken anfertigte, sondern ebenfalls Handpuppen für ein Puppentheater, einen großen Bottich mit eingeweichten Papierschnipseln zu stehen, aus welchen sie Pappmaché herstellte. Die Räume der hohen Altbauwohnung kamen mir riesig vor, aber ich war ja auch klein, da erscheint einem alles viel größer. Der Wohn- und Schlafraum war ein ausgedehntes Durchgangszimmer mit immer warmem Kachelofen und deckenhohen Regalen voller Bücher, die von Skulpturen und ausgefallenen Steinen dekoriert wurden. Die ersten Treffen fanden ausschließlich in diesem Wohnzimmer statt, aber während ich auf dem Teppich mit dem Korb wundersamer Spielsachen spielte, welche sie von ihren Reisen zusammengetragen hatte, konnte ich doch immer mal wieder einen Blick durch die zweite Tür erhaschen, durch welche es zu ihrem Atelier ging. Und obwohl die Spielsachen sehr edel und besonders waren - ich erinnere mich an ausgesägte Holztiere und bunte Geduldsspiele -, machte mich das verdächtig unaufgeräumte Zimmer hinter dieser Tür sehr viel neugieriger. Als Kind, das schon frühzeitig gelernt hatte, keine emotionalen Bedürfnisse mehr zu äußern, ließ ich mir allerdings nichts anmerken, sondern wartete geduldig ab.

Nach einigen dieser Kaffeekränzchen war es soweit: Die Künstlerin betrat mit mir ihr Atelier und ab da begann meine erste Kunstausbildung. Ich konnte mich nie, wenn ich dieses Atelier betrat, an dem kunterbunten Chaos in allen Ecken satt sehen. Auf dem Boden blanke Holzdielen, fand ich die große Fußbodentür extrem spannend. Manchmal kippte sie die Tür zurück und stieg einige Stufen nach unten, wo sich anscheinend ein Keller befand. Das Fenster ging zur Straße hinaus, auf welcher die Leute vorübergingen und direkt in das große Atelierfenster schauen konnten, wenn nicht gerade die Vorhänge zugezogen waren. Mehrere große Zeichentische standen im Zimmer, die stets über und über von Zeichnungen und Skizzenbüchern bedeckt wurden. Auf der anderen Seite bildeten großformatige Kommoden, die als Aufbewahrung der Zeichnungen dienten, die Grundlage für Regale, die voller Stifte, Pinsel, Farben und halbfertiger Puppenköpfe waren. Alles erschien mir sehr fremdartig und schön, denn die Künstlerin hat wirklich bezaubernde Sachen gemacht, so wie die Karte unten, die ich von ihr bekam. Ich habe sie immer für ihren Fleiß, ihre Disziplin und ihre Akuratesse bewundert. (Sie war Steinbock!) Überall an der Decke und an den Regalen hingen bunte Puppen und Marionetten, sowie Unmengen von Zeichnungen, meist Kinderzeichnungen, an den Wänden. Eigentlich hätte ich liebend gerne einmal richtig ausgiebig in diesem Atelier herumgestöbert, wahrscheinlich hätte es Stunden gebraucht, um alles aufzunehmen und zu erfassen, aber dazu ist es nie gekommen, weil ich mit anderen Dingen beschäftigt wurde.

Anfangs war natürlich alles sehr kindgemäß. Da wurden Sterne geschnitten, gefaltet und geklebt oder kleine Stielpüppchen aus Pappmaché gebastelt und bemalt. Ich ging jede Woche sehr gerne dorthin. Ja, es war sogar so, daß ich, wenn wir eine Woche mal nicht ins Atelier gingen, sondern im Wohnzimmer blieben und ich mich mit den Spielsachen selbst unterhalten sollte, regelrecht enttäuscht war. Irgendwann dann, vielleicht einige Monate später, hatte sich die Künstlerin etwas besonderes für mich ausgedacht. Auf dem Zeichentisch stand ein bunter Sommerblumenstrauß in einer Vase und es lagen daneben Pinsel und Farben bereit. Ich sollte diesen Sommerblumenstrauß malen und ich war geschockt. Das erschien mir dann doch einige Nummern zu groß und ich warf verzagt ein, daß ich das nicht könne. Sie meinte, ich solle es versuchen, und da ich ein artiges Kind war, tat ich dies. Mit dem Ergebnis schien sie sehr zufrieden zu sein. Im nachhinein kam es mir immer vor, als sei die Aufgabe so eine Art Test oder Prüfung gewesen, denn ab da ging es jede Woche richtig zur Sache. Sie brachte mir einen Großteil der wichtigsten Techniken bei: Kohle, Pastell, Feder, Tusche, Aquarell, Gouache, Linolschnitt und sicher noch einiges mehr, an das ich mich nicht mehr erinnere. Sie zeigte mir, wie man Kohle- und Pastellzeichnungen fixiert, nämlich mit einem kleinen Pusteröhrchen und einem Fixativ. Ich mache das heute noch so, obwohl mir dabei total schwindlig wird. Da sie sehr gerne alles mögliche ausprobierte an kreativen Techniken, testeten wir einiges auch zusammen, wie Farbverläufe von verdünnten Ölfarben auf Papier oder ähnliches.

Leider durfte ich die Sachen, die ich bei ihr gemacht habe, selten mit nach Hause nehmen. Sie hat alles selbst irgendwo aufbewahrt, was ich jetzt manchmal schade finde, da ich es gerne nochmal anschauen würde. Die Künstlerin ist bereits verstorben und von diesen Dingen sicher nichts mehr aufzufinden. Wenn ich allerdings einmal etwas doch mit nach Hause nehmen durfte, hatte ich das Gefühl, es gefällt ihr nicht und das fand ich auch irgendwie doof.
Als ich später meine Mappe für die Kunsthochschule vorbereitete, besuchte ich sie manchmal und sie begutachtete meine Arbeiten, gab nützliche Hinweise und Tipps und bei einigen Gelegenheiten durfte ich mir sogar aus dem dicken Künstlerkatalog etwas aussuchen, das sie für mich mitbestellte. Die exquisiten Pinsel, die ich von ihr habe, hielt ich so in Ehren, daß ich sie bisher nie benutzt habe. Eigentlich eine ziemlich unsachgemäße Verwendung, die ihr sicherlich nicht gefallen würde, wenn sie das wüßte.

Künstler war für mich ein Beruf wie für andere Kinder Zahnarzt oder Rechtsanwalt - er war für mich von meinen Eltern angedacht. Ich denke, daß ich als Kind ziemlich privilegiert gewesen bin, so gefördert worden zu sein und ich glaube, meine Eltern wollten von mir, daß ich stellvertretend für sie Kreativität auslebe, da sie sich selbst das nicht oder wenig getrauten, mein Vater als Literat, der er eigentlich einmal werden wollte, und meine Mutter als Künstlerin, die sie eigentlich einmal werden wollte. Und es ist kein Wunder, daß sie sich das nicht getrauten, denn ihre Erwartungshaltungen waren immens. Für meinen Vater war sowieso nie etwas gut genug und meine Mutter hatte in ihrem vorurteilsbehafteten Halbwissen darüber, was man in der Kunst dürfe oder nicht, und mit dieser unendlich quälenden Trennung zwischen Ernst und Unterhaltung, so viele Regeln angesammelt, daß echte Kreativität kaum noch möglich gewesen ist. Ich war mit der Wahl meiner Eltern nicht unbedingt unglücklich, ich habe durchaus gerne gemalt, gezeichnet und gebastelt, doch diese kreative Unfreiheit und die hohen Erwartungen meiner Eltern, haben mir bald einiges an Freude daran genommen, weil ich sie für mich selbst übernahm. Irgendwann war ich nur noch unzufrieden mit dem, was ich machte, und schließlich tat ich es nach der Wende meinen Eltern gleich und hängte die Kunst an den Nagel, um mir einen sicheren Job zu suchen. Bis heute bin ich damit beschäftigt, mich von den kreativen Zwängen, Vorurteilen und Erwartungshaltungen meiner Kindheit zu befreien, doch die Kunst an sich läßt mich nicht los. Das ist wohl auch der Grund, warum ich generell etwas gegen Vorurteile, Dünkel und von ihnen abgeleitete Regeln habe. Ich schreibe schräge Gedichte, kleckse Farben aufs Papier und wenn sich mein innerer Kritiker dazu meldet, schaue ich mir das Ganze noch einmal genauer an und finde es gerade dann wundervoll, was ich da mache, selbst wenn das sonst niemand sieht, einfach nur deshalb, weil ich mir erlaube, es zu tun. Genauso wundervoll finde ich es, wenn andere Menschen kreativ ihr Ding machen, ganz egal, ob mir ihre Erzeugnisse gefallen und ich Zugang dazu bekomme oder nicht. Ich habe zwar vergangenheitsgemäß einen strengen und scharfen Blick, was konkrete Beeinträchtigungen betrifft, doch beglücke damit in der Regel nur Leute, die mich darum bitten, und selbst dann schmälert es für mich niemals den persönlichen Wert einer Leistung. Schließlich ist das, was man selbst als Fehler sieht, oft sehr subjektiv und macht für andere wiederum den Charme einer Sache aus, weshalb ich mich meist lieber auf das konzentriere, was ich als positiv empfinde. Bei mir selbst hat es etwas länger gedauert, bis ich das konnte, und bleibt ein stetiger Übungsprozeß. Es sollten sich viel mehr Menschen die Erlaubnis geben, ihre Fähigkeiten in Freiheit und Freude zu entwickeln, denn dann müßten sie andere nicht als Stellvertreter anheuern oder bestrafen, sondern könnten sich gegenseitig unterstützen.

An meine erste Mentorin habe ich aus einem bestimmten Anlaß heraus wieder gedacht, eine Reisebegebenheit, die mir nun, da ich bereit bin, es bewußt zu sehen, einiges erhellt. Und ich fand, es wird einmal Zeit, diesen Teil meiner Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Noch heute liebe ich Künstlerateliers, ihre Gerüche, ihr kreatives Chaos und diese unwiderstehliche Buntheit und Ideenhaltigkeit, die in ihnen herrscht.

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Dienstag, 10. Dezember 2013

Bin ich ein Scanner?

Laut dem Buch "Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast" von Barbara Sher ist ein Scanner ein sehr vielseitig interessierter, sprunghafter und neugieriger Mensch, der genau dies leben muss. Die Aufgabe lautet, alle Projekte und Aktivitäten aufzuschreiben, die man jemals im Leben begonnen hat, unabhängig davon, ob sie beendet wurden.
Also gut - ab meinem Geburtsjahr 1970:

Sportgymnastik
einen Garten anlegen und pflegen
ein Drehbuch schreiben
eine Babykatze großziehen
Chorsingen/Singen
Zeichnung und Malerei
archäologische Ausgrabungen (ok, es war nur unter den Büschen an der Kirche, aber wir haben sogar eine antike Münze gefunden)
Stepptanz
Geologie (Steine sammeln und bestimmen)
Später Steine bemalen
die einführenden Seiten des Deutschen Dudens auswendig lernen
Maschineschreiben
Bäume und Pflanzen bestimmen/Herbarium
Ornithologie (Vögel beobachten und bestimmen)
Klavier spielen
eine Patchworkdecke nähen
Kleidung nähen (beruflich und privat - sogar aus dem Talar meines Vaters)
Basteln mit Streichholzschachteln und Papier
Siebdruck
Scherenschnitt/Transparentschnitt
englische Liedtexte übersetzen
Wortspiele
Norwegisch lernen
Tschechisch lernen
Gedichte schreiben
Traumtagebuch schreiben
Hieroglyphen lernen
Schmuck basteln
Kissen und Tischdecken besticken
Makrameé
Stricken
Häkeln
Encaustic
Karate
Schwimmen
Qi Gong
Dart
Billard
Autogenes Training/Meditation lernen
Kunstgeschichte/Geschichte/Religion
Psychologie
Astrologie lernen (in Astrologie würde ich wahrscheinlich sogar eine zertifizierte Prüfung bestehen)
Karten legen (Tarot, Zigeuner und Lenormand)
Feng Shui
Batik und Stoffdruck
Latein lernen (Kleines Latinum beim Studium))
Russisch lernen
Französisch lernen
Yoga
Aktienhandel
einen großen Familienroman schreiben
Kochen und Backen
jede Menge Bücher lesen und katalogisieren
Computer lernen/später stellenfremde Verwendung als Systemadministrator
eigene Webseite erstellen
Bloggen
Journal schreiben und gestalten
Fotos machen und mit Photoshop bearbeiten
Fotos entwickeln
ein Forum führen
Adventskranz flechten und basteln
Salsa tanzen
einen durchgeknallten Roman über eine Geschichte aus meinem Job schreiben
Wohnung renovieren
Möbel bauen
Schmetterlinge züchten
E-Book herausgeben mit dem durchgeknallten Roman
und seit neuestem
Zumba!

*die Hände über dem Kopf zusammenschlag*

Sieht wohl ganz so aus.