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Die alten Tagebücher

Montag, 9. April 2007

Ich finde es wirklich immer wieder faszinierend,

wie leicht und schnell in der Regel Zahnextraktionen im Fernsehen vor sich gehen. Selbst in alten Filmen oder Filmen, die in der Vergangenheit handeln, wo es noch keine Betäubung für diese Fälle gab, geht so eine Extraktion meist ratz-fatz.
Dabei denke ich dann regelmäßig an die Zahnextraktion bei meiner Zahnärztin - sie kniet fast auf mir drauf, die Schweißperlen laufen über ihr Gesicht, während sie stundenlang versucht, meinen Backenzahn auch nur einen Millimeter zu bewegen, schließlich holt sie ihre Kollegin, eine mächtige Walküre zur Hilfe, die sich ebenfalls auf mich drauf kniet und sich mit einer Kraft zu schaffen macht, dass ich ständig denke, mir bricht jeden Moment der Unterkiefer ab, doch leider ebensowenig Erfolg hat, meine Zahnärztin übernimmt wieder selbst - anscheinend macht sie sich ebenfalls schon Sorgen um meinen Unterkiefer - und beginnt mit dem Bohrer den Zahn so zu bearbeiten, dass nur noch kleine Stückchen übrig sind und sammelt diese einzeln aus meinem Zahnfleisch. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf diesem Stuhl verbracht habe, aber ich stelle mir gerne vor, was für ein Spaß das vor 200 Jahren, so ohne richtige Betäubung gewesen wäre. Und sicherlich kaum fernsehtauglich.

Mittwoch, 27. Dezember 2006

Die Erlebnisse meiner Mutter bei der Befreiung von Berlin 1945 und danach (nach ihren Erzählungen schnell aufgezeichnet, um nichts zu vergessen)

Im Sommer 1945 wurde meine Mutter 11 Jahre alt und war das älteste von drei Kindern. Während der Zeit des zweiten Weltkrieges und nach seinem Ende musste meine Oma - ihre Mutter, die drei Kinder alleine über die Runden bringen, denn der Vater war in den Krieg gezogen und bei den Schlachten und der Einkesselung in Dünkirchen in Frankreich dabei. Dort geriet er 1944 in alliierte Kriegsgefangenschaft.

Als die Bombenangriffe auf Berlin begannen, harrten meine Großmutter und ihre drei Kinder wie alle anderen im Luftschutzbunker, bzw. Keller unter ihrem Wohnhaus aus. Sobald die "Weihnachtsbäume" am Himmel erschienen, wussten sie, dass Bomben folgen würden. Die Männer, die im Luftschutzkeller waren, gingen in regelmäßigen Abständen nach draußen, um nachzuschauen, was los ist. Eines Tages kam einer wieder und erklärte, dass vor dem Haus ein abgeschossener Panzer steht und alle aus dem Keller heraus müssten.
Sie wohnten in einem alten Mehrfamilienhaus am Ostbahnhof mit einem für diese Häuser typischen riesigen Hausflur. Um nach draußen zu gelangen mussten sie durch diesen Hausflur hindurch, der voller gefallener russischer Soldaten war. Sie stiegen über die unzähligen Leichen und als sie vor dem Haus standen und meine Mutter sich umschaute, sah sie, dass die gesamte Vorderfront des Hauses fehlte. Wie ein gewaltiges Puppenhaus sah es aus, mit brennendem Dachstuhl. Sie hatten jedoch keine Zeit sich um das Feuer oder ihre Habseligkeiten zu kümmern, sondern mussten einen anderen Unterschlupf finden. Das einzige, was sie noch besaßen, war eine Tasche mit ihren Papieren, sowie ein Pfund Schmalz. Dieses Schmalz hatte meine Großmutter bei den Plünderungen des Osthafens ergattert, der gleich in der Nähe des Ostbahnhofs liegt. Mütter hatten dort unter Beschuß die riesigen Speicher geplündert, um etwas Eßbares zu finden.

Während der nachfolgenden Flucht durch die zerbombte Straße sahen sie überall gefallene russische Soldaten auf Treppen und in Hausfluren liegen. Sie wurden sogar selbst von Deutschen beschossen, die sich irgendwo auf den Dächern verschanzt hatten. Diese schossen auf ihre eigenen (!), aus den zerbombten Häusern flüchtenden Landsleute, Frauen und Kinder. Da meine Tante, das jüngste Kind, erst vier Jahre alt war, kümmerte sich meine Großmutter um sie, während meine Mutter, als Älteste mit dem mittleren Bruder zusammenblieb. Bei der Flucht mit ihrem Bruder durch die von Deutschen beschossene Straße fielen sie bei jedem Schritt auf die Knie und standen wieder auf, und zwar wegen der Druckwellen der Geschosse, die über sie hinwegflogen. Sie wurden von diesen regelrecht nach unten gedrückt und umgeworfen. Sie wollten in eines der Eckhäuser flüchten, welches noch stand, aber wurden getrennt und meine Mutter und ihr jüngerer Bruder suchten Zuflucht im Hausflur eines anderen Hauses. Dort wurden sie von jemandem in den dortigen Luftschutzkeller geholt, der sie beide auf die oberste Etage eines Hochbettes verfrachtete. Sie blieben eine Weile da, wollten aber irgendwann wieder weg, um ihre Mutter zu suchen. Die Leute aus dem Keller gaben ihnen zwei Äpfel mit und sie zogen los. Auf der Straße fragten sie jeden, den sie trafen nach den Leuten aus dem Eckhaus und jemand sagte ihnen, dass die alle nach Friedrichfelde hinaus geflüchtet wären. Also machten sie sich auf in Richtung Lichtenberg, das zu damaliger Zeit noch kaum oder gar nicht bebaut war, Stadtrand. Irgendwo auf der Straße lag ein totes Pferd und die Menschen strömten in Scharen hin, um sich Stücke vom Fleisch herauszuschneiden. Sie waren mehrere Tage unterwegs, klopften zwischendurch an Türen und erbettelten Essen oder einen Schlafplatz.

Auch meine Oma machte sich auf die Suche nach den Kindern, doch statt der Kinder fand sie meine Urgroßeltern, welche von Küstrin nach Berlin geflüchtet, von dort zurück nach Küstrin gegangen - und weil dort alles dem Erdboden gleichgemacht war (auch heute besteht die Altstadt nur noch aus Ruinen, die man teilweise unter dem wuchernden Gestrüpp kaum noch erkennen kann), erneut nach Berlin gingen. Alles zu Fuß und in betagtem Alter. Hier standen sie ratlos an irgendeiner Ecke und die Großmutter nahm sie mit. Meine Mutter und ihr Bruder hatten inzwischen die große Chaussee erreicht, die damals noch zwischen Feldern und Laubengärten entlangführte. Aus der Ferne erkannten sie einen Mann mit einem Koffer auf der Schulter, der ihnen entgegen kam. Der fragte sie, wo sie hin wollen und es stellte sich heraus, dass es ein Nachbar aus ihrem Haus war. Als sie sagten, dass sie ihre Mutter suchten, sagte er, er könne sie zu ihr hinführen, was er auch tat.

Meine Oma und ihr jüngstes Kind hatten sich mit anderen zusammen in die Schrebergärten am Rande der Stadt geflüchtet, wo viele Sommerlauben leer standen. Dort quartierten sie sich in eine winzige Laube ein und hierher hatte meine Großmutter meine Urgroßeltern gebracht. Der Raum war nicht größer als sechs Quadratmeter und hierher führte der Nachbar nun ebenfalls die Kinder. Beide waren unglaublich glücklich, ihre Mutter wiedergefunden zu haben und meine Mutter bezeichnet es heute als eine Fügung des Schicksals.

Alle zusammen lebten nun einige Zeit in der Sechs-Quadratmeter-Laube, wo sie aber wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. Ganz in der Nähe hatten die Russen einen Stützpunkt und meine Mutter erzählt, dass die Russen gerade zu den Kindern sehr nett waren. Es gab an dem Stützpunkt eine Gulaschkanone zur Verpflegung der Soldaten und wenn eines der Kinder mit einer Kanne dort hin ging, bekam es immer die Kanne bis oben hin voll mit gesalzenem Grießbrei oder was es sonst gerade zu essen gab. Allerdings fielen auch andere Dinge mit den Russen vor. Die Frauen hatten große Angst vor ihnen, insbesondere vor den "Mongolen", die als besonders grausam galten. Der allererste Russe, den meine Mutter sah, war solch ein Mongole und kam in den Luftschutzkeller, in welchem sie sich aufhielten. Er hielt eine winzige blitzende Pistole genau auf meine Großmutter gerichtet und im Keller wagte in diesem Augenblick niemand mehr zu atmen. Dann verschwand er aber und andere Russen kamen. Meine Mutter meint, dass den russischen Soldaten die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ab und zu holten sie Frauen, um sie zu vergewaltigen, indem sie sagten: "Frau komm!" Manche der Frauen waren so clever, dass sie sich sofort an einen der Offiziere heranmachten. Dann waren sie "immun", weil andere sie nicht mehr anfassen durften.

Nach einiger Zeit in der Laube konnten sie in ein größeres Haus mit einem oberen Stockwerk umziehen. Dort hatten vorher die Russen gehaust, und zwar wie die Vandalen. Alle Federbetten waren aufgeschlitzt, die Federn lagen überall im ganzen Haus verteilt und in herumstehende Kannen war hineingeschissen worden. Teilweise fanden sie noch Silberlöffel und alles was sie irgendwie gebrauchen konnten, wurde eingesammelt. Vor dem Haus stand ein alter grüner Gartentisch und um diesen Tisch versammelten sich manchmal Russen, aßen salzigen Hering und tranken Wodka. Sie fragten erst gar nicht, sondern spazierten einfach in den Garten, schmissen den Hering auf den Tisch, hauten ihn in kleine Bissen und legten mit ihrem Gelage los. Die Kinder bekamen oftmals auch einige Bissen zugesteckt.

Später fand meine Großmutter eine Unterkunft in der Stadt, eine Kochstube in einem Haus, also eine größere Küche, in der man gleichzeitig wohnte. Ab jetzt hauste die ganze Familie hier. Meine Oma verdiente ihr Geld als Trümmerfrau und klopfte von früh bis abends Steine. Auch meine Mutter musste im Rahmen der Schule Steine klopfen. Dafür bekam sie Stempel in ein kleines Heftchen. Sie tranken Petersilienwasser, aßen Brennesselspinat und geröstete Brotscheiben mit Zucker.
Meine Oma war vor lauter Arbeit, Kummer und Sorgen nur noch ein Strich in der Landschaft und inzwischen war die Ruhr im Nachkriegs-Berlin ausgebrochen. Mein Urgroßvater erkrankte daran und meine Mutter erinnert sich noch, wie meine Großmutter ihn, der ebenfalls nur noch dünn wie ein Hering war, in einen kleinen Leiterwagen setzte und ihn so selbst mit der Hand in das Krankenhaus nach Lichtenberg zog. Dort verstarb er. Das Telegramm kam einige Tage später.

Endlich kam mein Großvater aus der Kriegsgefangenschaft. Er konnte sehr gut Sachen und Essen organisieren, so dass es eine große Erleichterung für die Familie war. Er ging oft früh los, hängte sich außen an einen der Züge, die auf das Land fuhren, wobei er nicht der einzige war - es hingen Trauben von Menschen an den Zügen, die sich irgendwo festhielten, und auf das Land fuhren -, und stahl dort z.B. Kartoffeln von den Feldern, was alle machten, oder klopfte bei den Bauern und bat um Essen. Die Bauern waren jedoch sehr knauserig und gaben kaum etwas. Manchmal kam er tagelang nicht mehr wieder. Außerdem war er sehr geschickt im Angeln und fing nicht nur kleine Fische, sondern riesige Hechte. Diese waren äußerst gefragt und wurden gegen alles mögliche eingetauscht. Auf diese Art kam meine Großmutter auch zu einer alten Singer-Nähmaschine, mit der sie Kleidung für die Kinder nähte. Sie fand irgendwo blau-karierte Bettwäsche und eine bestickte Trachtenweste, wie sie damals Mode war. Aus der Bettwäsche nähte sie ihrer Tochter einen Rock, welchen sie zu der bestickten Weste trug und für meine Mutter war es das Schönste, was sie bis dahin je besessen hatte.

Meine Urgroßmutter war inzwischen bei Verwandten in Wittenau in ihrer kleinen Wohnung aufgenommen worden und hat meinen Urgroßvater noch viele Jahre überlebt. Meine Großeltern konnten mit den Kindern bald in eine der Wohnungen über der Kochstube ziehen. Hier verfolgten sie die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes, denn sie hatten nichts mehr von Onkel Walter gehört, dem Bruder meiner Großmutter, der zwar nur Stubenmaler war, aber sehr künstlerisch begabt und vor dem Krieg viele eigene Ölgemälde in seiner Wohnung zu hängen hatte. Dieser kehrte nie aus Stalingrad zurück, es kam jedoch auch nie eine Nachricht, dass er gefallen ist. Niemand weiß, wo er abblieb oder was mit ihm passierte. Das letzte, was sie von ihm hörten, war ein Brief, dem er die Bleistiftzeichnung eines Schlachtfeldes beigelegt hatte. Das Bild sagte mehr aus als tausend Worte, heißt es, doch auch von dem Bild weiß niemand mehr, wo es geblieben ist.

Laut Aussage meines Vaters existierte außerdem ein schriftlicher Bericht meines Großvaters väterlicherseits über Stalingrad und seine russische Kriegsgefangenschaft. Dieser Bericht scheint ebenfalls verschollen. Man könnte meinen, daß Menschen Dinge, die sie an unangenehme Ereignisse erinnern, besonders gerne 'verbummeln'.

Dienstag, 26. Dezember 2006

Winterbeschäftigungen

Madame Lila hat mich gerade gefragt, was wir als Kinder in Berlin im Winter gemacht haben. Also ich kann mich ehrlich früher an keinen Winter erinnern, in dem wir keinen Schnee hatten, wenn man auch manchmal etwas länger warten musste. Deshalb sangen wir dann immer "Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?.....", was meistens gut half, denn spätestens zu oder nach Weihnachten war der Schnee da und die Freude um so größer. Jetzt traf man sich zum Schlittenfahren, Schneemannbauen oder einfach nur im Schnee spielen.

Wir hatten zwar keine Berge, aber einen großen und einen kleineren Hügel, die vollkommen ausreichten, um Spaß zu haben, entweder mit Schlitten, Ski oder Gleitern. Ich fuhr am liebsten Gleiter oder Ski, letztere besaß ich aber nicht, sondern nur mein Spielfreund, der sie mir aber glücklicherweise immer überließ und den Schlitten bevorzugte. Wenn die Hügel uns zu überfüllt waren, fuhren wir auch einfach auf der Straße oder spielten ganz andere Sachen.

Als meine Mutter einmal im Winter mit mir zum Arzt musste, da ich nach Entfernung der Mandeln dauernd Racheninfekte kam, verriet sie dort, dass ich mich den ganzen Tag mit Rock im Schnee wälze. Die Aussage "den ganzen Tag" war zwar etwas pauschal übertrieben, aber ansonsten stimmte es durchaus und es war mir furchtbar peinlich, dass sie es der Ärztin erzählte. Die sah mich etwas komisch an, sagte aber nichts.

Wenn wir uns nicht draußen trafen, gab es auch drinnen einiges, was man spielen oder entdecken konnte. Ich kann mich insbesondere erinnern, dass ich ernsthaft an der Verfeinerung meiner Weihnachtsnüsse arbeitete. Dazu kam ich nämlich eines Tages auf die Idee, die geschälten Nüsse in das Ofenfach des warmen Kachelofens zu legen, um sie zu "rösten". Natürlich waren sie nicht wirklich geröstet, aber ich bildete mir ein, dass sie so besser schmecken, weshalb ich nun stets alle geschälten Nüsse fein säuberlich im blanken Ofenfach aufreihte, liegen ließ und erst danach aß. Einmal testete ich auch, wie Schokolade auf diese Behandlung reagiert, kam aber nach dem Experiment zu dem Schluß, dass Schokolade löffeln nicht so das Wahre ist. Künftig durfte sie nicht mehr in das Ofenfach.

Außerdem hatten wir eine Katze, mit der man auch im Winter die lustigsten Sachen erleben konnte. Zum Beispiel fraß sie unheimlich gern Lametta, und wenn man sie mit dem Weihnachtsbaum alleine ließ, konnte es passieren, dass es einmal laut schepperte und der ganze Baum der Länge nach im Zimmer lag. Dies sorgte dafür, dass wir endlich von dem alten Weihnachtsschmuck wegkamen und neuen besorgten.
Meine Eltern fanden das meist aber weniger lustig. Überhaupt muss Weihnachten für die Katze wohl mehr Festzeit gewesen sein, als für uns alle zusammen. Nicht nur, dass es einen glitzernden Weihnachtsbaum gab, dessen Schmuck sie auffressen konnte, an dem sie sich die Krallen schärfen und den sie umschmeißen konnte, es gab auch noch jede Menge Kisten und Papier zu erforschen. Beim Geschenkeauspacken war sie immer die erste, die ihre Nase irgendwo hineinsteckte. Nicht zu vergessen, die leckeren Enten, Gänse und Kaninchen, von denen sie schon vor dem Weihnachtsessen ihren Teller voll bekam. Überhaupt ist so eine Katze im Winter noch kuschliger als im Sommer. Man kann sich mit ihr zusammen an den Ofen rollen und den Winter verschmusen.

Montag, 11. Dezember 2006

Alte Überlieferungen

Jeden Tag, fünfmal die Woche, eile ich daran vorbei, dem in kyrillischen Buchstaben an die roten Backsteine geschmierten "Doswidanija!". Es ist das einzige Graffiti, welches ich kenne, das unter Glas konserviert wurde. Seinen Ursprung hat es in der ehemaligen Sowjetkommandantur, welche nach dem zweiten Weltkrieg ihren Sitz auf unserem Dienstgelände hatte. Manchmal achte ich kaum darauf und manchmal kommen mir jede Menge Gedanken und Fragen. Wie waren diese Russen? Wie haben sie sich in Berlin gefühlt? Hat es ihnen hier gefallen? Haben sie hier auch geliebt oder nur gehasst? Hatten sie Heimweh? Fühlten sie Abschiedsschmerz? Was haben sie erlebt?
Ich kenne den zweiten Weltkrieg und die Zeit danach nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die beide in ihrer Kindheit noch den Krieg miterlebten. Und schon als Kind faszinierten mich ihre Geschichten, was insbesondere daran lag, dass Wörter wie "Weihnachtbäume", "Stalinorgeln", "Luftschutzbunker", "Schwarzmarkt" u.ä. für meine Ohren irgendwie poetisch klangen, wobei mir aber bereits damals klar gewesen ist, dass die Zeit wohl alles andere als poetisch war. Obwohl meine Mutter jünger ist, hat sie mehr zu erzählen als mein Vater, was daran liegt, dass an dem kleinen Spreewalddorf meines Vaters der Krieg fast spurlos vorbeigegangen ist. Allerdings nicht an meinem Großvater, der in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen ist und nie darüber gesprochen hat, sondern geschrieben. Mein Vater berichtete ab und zu, wie er gerade mit dem Fahrrad aus Cottbus herausgefahren war, als ein Luftangriff auf den dortigen Flughafen begann. Er erlebte diesen mit seinem Fahrrad in einem Straßengraben mit, neben ihn ein anderer Mann, der dort ebenfalls Schutz gesucht hatte. Außerdem musste er als Mitglied der Hitlerjugend Schützengräben für die Armee schippen.
Meine Mutter dagegen war bei den Bombenangriffen auf Berlin dabei. Von ihr hörte ich die Geschichte, wie sie und ihr kleinerer Bruder auf der Flucht ihre Mutter, meine Großmutter, verloren, und sie Tage später durch einen Zufall wiederfanden. Wie sie bei Fliegeralarm in die Luftschutzbunker zogen. Wie sie als Kinder in den ausgebombten Häusern herumkletterten und spielten, und mein Onkel, ihr Bruder, wagemutig von Berliner Brücken kopfüber in die Spree sprang, bis er eines Tages von meiner schockierten Großmutter erwischt und versohlt wurde. Dass es nach dem Krieg Brennesselspinat, Kohlrübeneintopf und Arme Ritter (angebratene Brotscheiben mit Zucker bestreut) gab und dass Schuhe notdürftig aus verschiedenen Überresten von Soldatenausrüstungen geschustert wurden. Wie gut, dass der Großvater, mein Urgroßvater, Schuhmacher war und deshalb dies für seine Enkelkinder in die Hand nahm. Überhaupt ist es auch bewundernswert, wie meine Urgroßeltern mit einem Alter von über 60 erst zu Fuß mit ihren Habseligkeiten aus Küstrin, ihrer Heimat, geflüchtet sind, nach dem Krieg zu Fuß wieder dorthin zurückgekehrt sind und als sie die gesamte Altstadt mitsamt ihres Hauses dem Erdboden gleichgemacht fanden, zu Fuß erneut nach Berlin gezogen sind. Heute sind die letzten Trümmer der Altstadt mit Gestrüpp überwuchert.
Und demnächst will mir meine Mutter von ihren Erlebnissen mit den Russen erzählen, womit ich wieder beim Anfang wäre. Doswidanjia!

Sonntag, 29. Oktober 2006

Ich freue mich auf's Adventskranzbasteln....

.....auch wenn ich anscheinend alleine basteln werde. Hab mir heute einen Weidenkranz, Bindedraht und Dekomaterial besorgt. Tannenzweige hole ich erst in der Woche vorm 1. Advent und bis dahin muss ich rausfinden, wie man die dann an dem Kranz befestigt. Mal schauen, ob es Bastelanleitungen im Internet gibt. Und überhaupt, was ist gegen Adventskranzbasteln einzuwenden? Ich mag Weihnachten. Insbesondere das Weihnachten, wie ich es aus meiner Kindheit in der DDR kenne, wo der Kommerz sich noch schamhaft hinter der Ecke versteckte. Natürlich haben wir damals auch Geschenke gekauft, und das Kaufhaus am Alex war da ebenfalls schon kurz vor Weihnachten stark überlaufen, nur mit dem Unterschied, dass man von einem Ende bis zum anderen durchgucken konnte und schnell wieder draußen war, während man sich heute zwischen den Warenregalen und in den Warenangeboten regelrecht verläuft. Und immerhin wurde man nicht von aggressiver Werbung und Schokoweihnachtsmännern im September genervt. Letztere gab es nur kurz vor Weihnachten und man musste schnell sein, damit man noch welche abbekam.
Wegen der begrenzten Möglichkeiten, seine Kaufkraft irgendwie loszuwerden, war das Basteln eigentlich das ganze Jahr hindurch eine Lieblingsbeschäftigung des DDR-Bürgers. Da wurden Trabis aufgemotzt, alte Klamotten zu neuen umgenäht, Bettlaken gefärbt und zu topmodischen Taschen verarbeitet oder Stoffwindeln zu Halstüchern, Lampenschirme aus Makramee gefertigt, Vogelhäuschen gezimmert, Ohrringe aus Vogelfedern, Perlen und Sicherheitsnadeln gelötet, extravagante Netzshirts gestrickt - je dicker die Kochlöffel, die als Stricknadeln fungierten, um so heißer -, alte Möbel mit neuem Lack verschönert, Patchwork-Tagesdecken genäht, Kerzen gedrechselt, Diskokugeln aus zersprungenen Spiegeln zusammengesetzt, Handpuppen aus Pappmache geformt und vieles mehr. Vor Weihnachten konnte man zwar weniger konsumieren, hatte aber dadurch halt mehr Zeit zum Basteln, was auch eifrig getan wurde. Von Bastelzubehör wie heute (wie ich bei meinem Einkauf feststellte), konnte man damals nur träumen oder auf ein Westpaket hoffen. Meistens musste man sich deshalb auf Papiergirlanden, Papier- oder Strohsterne, Stoffbänder und Tannenzapfen beschränken. Ich kann mich noch sehr gut an das Weihnachten erinnern, als wir ein Carepaket aus dem Westen von einer Patengemeinde erhielten. Da ich meistens immer erst die leeren, bzw. halbleeren Westpaktete sah, also hauptsächlich die Pappkartons, hatte ich die Angewohnheit, diese gänzlich auseinanderzunehmen und noch in die Ritzen zwischen den einzelnen Pappschichten zu schauen in der vagen Hoffnung, dort eine sensationelle Entdeckung zu machen. Auch bei diesem Paket tat ich das, als meine Mutter den Karton schon fortnehmen wollte, und fand zu meiner überschäumenden Freude gepaart mit detektivischem Stolz ein Heft mit bunten Bastelfolien. Später vermutete ich, dass das eine abgekartete Sache war und meine Mutter der netten Frau St., die einmal bei uns zu Besuch gewesen ist, einfach gesagt hat, dass sie was zwischen den Kartonboden legen soll. Aber egal, die Bastelfolien habe ich gehütet wie einen Schatz.
Ja, ich habe als Kind gerne gebastelt. Ich nannte es zwar keine Lieblingsbeschäftigung, aber tat es, wenn ich dazu aufgefordert wurde mit Interesse und Freude und manchmal sogar unaufgefordert. Ich habe schon von klein auf alles geliebt, was irgendwie kreativ war. Zwar gab es auch damals Kinder, die das weniger gerne taten als ich, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass wir viel häufiger bastelten als die lieben Kleinen heute. Na klar, wir hatten ja noch keine Playstation.

Donnerstag, 14. September 2006

Die längst vergessenen, alten Schulhefte

Eigentlich hätte ich nicht damit gerechnet, diese noch einmal in meinem Leben wieder zu sehen. Schließlich habe ich sie stets so bald wie möglich nach einem Schuljahr oder wenn ich wusste, dass ich sie nicht mehr brauche, entsorgt. Ich hegte nie das Bedürfnis, so etwas aufzuheben. Das einzige, was ich noch besitze, ist meine Facharbeiterprüfungsarbeit mit dem Titel: "Untersuchen Sie, welche Spezialmaschinen bei der Anfertigung einer Hose eingesetzt werden, beschreiben Sie deren Anwendung und die sich daraus ergebenden Vorteile.", eine Staatsbürgerkundearbeit zu der Aufgabe "Erarbeite eine Argumentation zu der Behauptung, die Sowjetunion bedrohe die freie Welt mit einer maßlosen Aufrüstung und trage somit die Schuld an der Verschärfung der internationalen Lage!", eine Semesterarbeit zu dem Thema: "Gefährdet der Dualismus zwischen den öffentlich-rechtlichen und den privaten Funkmedien die politische Funktion dieser Massenmedien?", sowie diverse juristische, betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Klausuren. Ich habe meine Schulhefte und -hefter gehasst, ebenso wie ich meine Schrift und generell das Mitschreiben gehasst habe, und hatte nie Lust, mir mein Gekrakel irgendwann nochmal zu Gemüte zu führen.

Heute nun erzählte meine Mutter, als ich bei ihr war, um wieder einigen Müll wegzuschaffen, dass sie den letzten großen Karteikasten meines Vaters erst nicht aufbekommen habe, er ihr aber plötzlich herausgerutscht und der gesamte Inhalt herausgefallen wäre. Dieser bestand aus Bergen von handbeschriebenen und in der Mitte durchschnittenen Papierblättern. Meine Mutter fragte mich feststellend, dass das doch meine Handschrift wäre. Ich erkannte meine Schrift ebenfalls, konnte mir jedoch nicht vorstellen, woher meterweise beschriebenes Papier von mir kommt, weshalb ich erst zweifelte. Doch nach Durchsicht fand ich auch noch ein A5-Heft, auf welchem in Russisch mein Name stand und diverse Karteizettel, die meinen Namen enthielten. Als ich mir die Sachen genauer anschaute, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass mein Vater anscheinend sämtliche Schulhefte aus allen Klassen von mir gesammelt, sie auseinandergenommen und in der Mitte durchgeschnitten hat, damit die Seiten als Karteiblätter in den Karteikasten passen.
Genaugenommen haute mich das so aus den Socken, dass ich immer wieder rief: "Was ist das denn? Das gibt's doch nicht!", denn zum einen ist es mir wirklich ein Rätsel, was er mit diesem Papier wollte und zum anderen, wie er da ran gekommen ist. Es scheint fast so, als hätte er sie aus dem Mülleimer gefischt, wenn ich sie entsorgt habe. Eigentlich ist das meiste darin völlig uninteressant, gerade aus den unteren Klassenstufen, außerdem ist ja alles zu Karteikarten zerschnitten, wenn er einfach nur ein Heft hätte von mir aufheben wollen, wäre es nicht notwendig gewesen, diese kiloweise in Karteikästen zu horten, es ist mir unbegreiflich, was er sich dabei gedacht hat. Merkwürdig daran finde ich auch, dass sich nur Schulhefte von mir finden, aber kein einziges von meinem Bruder.

Meine Mutter wollte wissen, ob ich das Zeug haben will, aber da ich es bisher nicht vermisst habe, werde ich es auch künftig nicht vermissen. Wer kann es sich schon leisten, in einer kleinen Mietwohnung jedes winzige Zipfelchen seines Lebens in einem Archiv zu verwahren (ok, bis auf Marlene Dietrich, aber die hatte dann auch nur noch Platz für das Bett)?
Sollte mir wirklich irgendwann der Physik-Nobelpreis verliehen werden, ist das natürlich ein herber Verlust für meine künftigen Biographen, wenn sie nicht mehr in meinen alten Physikheftern wühlen und nach den ersten Geistesblitzen fahnden können. Aber so ein bißchen geheimnisvolle Aura hat noch nie geschadet....

Freitag, 11. August 2006

Mein Elternhaus - Die Kirche

Natürlich spielten wir auch gerne neben der Kirche, an die sich ein kleiner Park anschloß, was aber unsere Eltern nicht gerne sahen. Sie wollten lieber, dass wir uns auf dem Hof aufhielten.
Die Kirche war so etwas wie ein spannendes Geheimnis und nur zu gerne, wären wir in alle ihre dunklen und unheimlichen Winkel gekrochen, um uns wie Helden zu fühlen und wohlig zu gruseln. Leider ging das nicht, weil sie meist geschlossen war und wir sie wie alle anderen in der Regel nur im Gottesdienst sahen. Um so eindrucksvoller war es für mich, wenn mein Vater als Pfarrer mich manchmal mit in die leere Kirche nahm, falls er dort etwas zu erledigen hatte oder der Kantor an der Orgel übte.
Die echte Kirche, die ich von meinen frühesten Erinnerungen her kenne, war ziemlich furchteinflößend, weil zum einen immer dunkel, vielleicht kam mir das auch nur so vor, und zum anderen mit einem wirklich gigantischem hölzernem Jesus an einem noch gigantischerem Holzkreuz ausgestattet. Und dabei handelte es sich um keine realistische oder gar verklärte Darstellung, sondern um ein expressionistisch anmutendes grobes menschliches Gebilde mit riesigen Augen, einem verzerrtem Gesicht, eckigen und kantigen Gliedmaßen und einer schweren, stachligen Dornenkrone, alles aus dunklem purem Holz, ohne jede Bemalung. Wahrscheinlich kam er mir kleinem Zwerg noch riesiger und furchteinflössender vor, als einem Erwachsenen und dennoch frage ich mich auch heute noch, wieso man in eine kalte, düstere Höhle mit diesem gräßlichen Anblick eines leidenden Menschen gehen soll, um Gott zu ehren.
Sollte bei aller Demut und Nachdenklichkeit ein Gottesdienst nicht auch fröhlich sein? Welcher wahre Gott wird sich durch bedrückte und furchtsame Menschen geehrt fühlen? Welche Mutter sieht ihre Kinder lieber weinen anstatt lachen?
Vielleicht ist dies der Grund, dass ich mich in der Natur Gott sehr viel näher fühle - sie kann grausam sein, aber auch schön, sie ist alles in einem, in ihr findet man alle Facetten Gottes.
Und doch mochte ich schon damals die Klänge der Orgel, die wie ein Wind zu mir herunter brausten, um mich herum und bis unter das Dach hinauf wehten, meinen Körper durchdrangen und in meinem Kopf etwas vibrieren ließen, ein Licht, das aus reinen Tönen bestand.
Früh schon in meiner Kindheit habe ich das große Kirchenschiff nie wieder gesehen, weil es wegen Bauarbeiten gesperrt wurde und die Gottesdienste in der kleinen Kapelle, die innerhalb der Kirche in einem Anbau lag, stattfanden. Diese war sehr viel freundlicher und heller, aber auch weniger beeindruckend. Erst nach der Wende wurde die Kirche nach den endlich abgeschlossenen Bauarbeiten wieder geöffnet. Im übrigen habe ich unzählige Male gegen die Kirchenmauern gepinkelt, weil sie, von dichtem Gestrüpp umstanden, bequemer waren als der Weg auf das Klo, aber das nur nebenbei.

Die Kirche war mindestens so unheimlich wie der Keller unseres Hauses, in dem wir ausnahmsweise nicht spielten, da er immer verschlossen war. Allerdings habe ich mich auch nie besonders wohl dort gefühlt. Dem Gebäude entsprechend war er ebenfalls ziemlich groß. Man stieg erst eine schmale Treppe hinab, die in einen ebenso schmalen und sehr langen dunklen Gang mündete, der genau unter dem Hinterhaus entlang führte. Am Anfang und am Ende befanden sich dicke Stahltüren mit Gucklöchern, da der Keller im Krieg natürlich als Luftschutzraum gedient hatte, und ich löcherte meine Mutter jedesmal mit Fragen über die Türen, wenn wir dort unten waren. Nachdem man durch diesen Gang gelaufen war, gelangte man in ein geräumiges, quadratisches Flurstück, von welchem nun im gleichen Winkel wie das Haus noch einmal ein langer dunkler Gang abging.
Diesen mußten wir glücklicherweise nie betreten, da unser Keller sich genau am mittigen Flurpunkt befand, allerdings war das gähnende schwarze Loch des unbeleuchteten Einganges um so gruseliger. Ich kann mich erinnern, dass ich mich lieber zusammen mit meiner Mutter in unserem Kellerraum aufhielt, der im übrigen riesig war und voller Gerümpel, als davor zu warten, wozu sie mich manchmal aufforderte. Denn da draußen sah ich immer allerhand unheimliche Gestalten und Dinge aus dem schwarzen Gang auftauchen, die sich bei Licht besehen als hervorstehende Brettertüren oder ähnliches entpuppten.

So wie jeder Ort meiner kindlichen Heimat mit anderen Erinnerungen verknüpft ist, so sind es auch die Jahreszeiten, die ich dort erlebte.
Zeitig im Frühjahr entdeckten wir im Wäschegarten die ersten Schneeglöckchen, danach die Hyazinthen und Maiglöckchen. Ihnen wurde stets besondere Aufmerksamkeit zuteil, vielleicht weil sie die Boten des nahenden Sommers waren.
Die Sommer waren das Schönste und ein Fest für uns Kinder. Endlich nicht mehr dick einmummeln, auf der Wiese herumtollen, unendlich lange Tage draußen verbringen und unserer Phantasie wurden nun keine Grenzen mehr gesetzt. Der Sommer ist für mich verbunden mit dem silbernen Rauschen des leichten Windes in den hohen Pappeln, mit der Stille der am Himmel vorbeiziehenden Wolken und mit dem so sehnsüchtig und wie aus weiter Ferne klingendem Ruf der Türkentaube.

Im Herbst verwandelte sich unser Haus in ein Farbenmeer. Denn, während es zur Straße hin eine gediegene, graublaue, bürgerliche Fassade hatte, war das Hinterhaus über und über bis zum Dach mit Weinranken bewachsen. Bevor ihre Blätter abfielen verfärbten sie sich knallig rot und als Kind habe ich besonders leuchtende Blätter oft aufgehoben, manchmal wurden auch welche in das Küchenfenster geweht, und wie einen Schatz bewundert. Außerdem hatten es uns die zusammengekehrten Laubhaufen angetan. Wir ließen uns gerne in sie hinein plumpsen oder bewarfen uns gegenseitig mit Armen voller Blätter, bis vom Laubhaufen nicht mehr viel übrig war. In einer Ecke des Kindergartenspielplatzes befand sich ein kleiner, durch einen niedrigen Holzzaun abgetrennter Verschlag, wo das Laub, sowie Erde neben einem Baum gelagert wurde. An dem Baum befand sich eine kleine Höhle, wo die zweite Hofkatze, mit der ich mich angefreundet hatte, einen Wurf Junge bekommen hatte. Um sie zu besuchen, kletterte ich über den Zaun direkt auf den schon festgetrampelten Haufen. Einmal hatte ich einen Lutscher dabei und um die Hände für die Kätzchen frei zu haben, steckte ich ihn mit dem Stiel hinter mir in die Erde. Als ich mich nach einer Weile umschaute, ich wollte wieder daran lutschen, sah ich so einen kleinen Racker von Kätzchen, das sich von den anderen weggeschlichen hatte, und während ich abgelenkt gewesen bin, fleißig an meinem Lolli leckte.
Leider verschwanden alle Katzennester schon nach kurzer Zeit, was mich heute nicht mehr wundert, weil M., mit dem ich zusammen spielte, es ebenfalls sofort mitbekam, wenn irgendwo Katzen waren und es wahrscheinlich dann auch gleich seinem Opa, dem Hausmeister erzählte.
Dieselbe Katze, die sich ab und zu in unserer Wohnung aufhalten durfte, bekam eines Tages auf dem Fernsehsessel einen weiteren Wurf Junge, drei an der Zahl. Meine Mutter trug sie vor Schreck alle auf die Wiese des Wäschegartens, doch die Alte packte eines nach dem anderen am Schlawittchen und trug sie wieder vor unsere Wohnungstür. So ging es eine Weile hin und her, meine Mutter schwitzte schon Blut und Wasser bei der Vorstellung, vier Katzen in der Wohnung zu haben, als die Alte es schließlich aufgab und bei den Kleinen auf der Wiese blieb. Irgendwann unterhielt sich meine Mutter darauf mit dem Hausmeister und er meinte kopfschüttelnd zu ihr, er habe es noch niemals erlebt, dass eine Katze ihre Junge auf der Wiese bekommen habe. Ich selbst vermute ja, dass er sich absichtlich ahnungslos gestellt hat, denn so oft wie die Katze mit ihren Jungen im Maul über den Hof und in den Hausflur hinein gewetzt ist, war es wohl kaum zu übersehen, woher sie kamen. Mir selbst tat es in der Seele weh, die Kleinen so schutzlos auf einer Wiese ausgesetzt zu sehen, weshalb ich mit den anderen Kindern ein Zelt für sie baute. Doch bald waren auch diese Katzen verschwunden.

Mit dem Herbst ist für mich ebenso das Geräusch der auf das Dach des kleinen Schuppens, in welchem die Spielgeräte des Kindergartens lagerten, knallenden Kastanien verbunden.
Der Winter zeichnete sich vor allem durch Kälte aus - unser Bad wurde nur mit einem kleinen Gasheizer dürftig erwärmt, meist war es eisig, insbesondere die Klobrille, und dekorative Eisblumen bedeckten das ganze Fenster. Auch die Küche war nur notdürftig beheizt und durch den kleinen Korridor, an den Küche und Bad angrenzten, zog es wie Hechtsuppe wegen der undichten hinteren Eingangstür.
Die anderen Zimmer hatten zwar Kachelöfen, kühlten aber durch ihre Größe schnell wieder aus. Mit dem Winter verbinde ich vor allem den in der Nase ätzenden Geruch voller Ascheeimer und qualmender Öfen, aber ebenso die wohlige Hitze, welche diese am Abend abstrahlten und die mir im Bett die Füße wärmte. Und natürlich das vollkommen ungehemmte und verschwitzte Herumtollen im Schnee. Ein echter Grißlibär kennt eben keine Kälte.( http://weltentanz.twoday.net/stories/2120854/ )

Mittwoch, 9. August 2006

Mein Elternhaus - Spielorte

Ein Mehrfamilienhaus besteht nicht nur aus Wohnungen und auch in meinem Elternhaus gab es gewisse Winkel, die insbesondere für uns Kinder sehr spannend waren. Ich habe zwar niemals den Dachboden von innen gesehen, aber schon vor dem Dachboden wirkte der Hausflur mit einem Mal enorm abenteuerlich und unheimlich. Es begann damit, dass es viel dunkler wurde, als auf den normalen Treppenabschnitten, weil es hier nämlich nur noch ein kleines, ovales Fenster gab, durch welches das Licht hereinfiel. Und auf dem Treppenabsatz vor dem Dachboden des Hinterhauses entdeckten wir sogar einmal eine Schatzkiste. Diese bestand zwar nur aus alten Lumpen und Kostümen, die vielleicht der Jugendkreis zum Theaterspielen benutzt hatte, aber für uns war ein trüber Regentag gerettet, an welchem wir uns im schummrigen Dämmerleuchten verkleideten, immer wieder einen kurzen Blick von oben, aus dem ovalen Dachfensterauge, auf unseren nassen Spielplatz werfend, und auf dem Absatz vor der Dachbodentür unsere Auftritte absolvierten, während die anderen zwei, die gerade nicht an der Reihe waren, von der Schatzkiste aus hochapplaudierten.

Wir trafen uns fast regelmäßig, selbst bei Regenwetter, draußen und verzogen uns, wenn es zu ungemütlich wurde, in die großzügigen Treppenaufgänge des Altbaus. Auch dort fiel uns immer was zum Spielen ein, aber wenn ich daran denke, was wir dabei oft für einen Lärm gemacht haben, wundere ich mich im nachhinein, dass sich kaum jemals jemand beschwert hat. Nur ab und an kam ein Erwachsener vorbei und ermahnte uns nachsichtig, nicht so laut zu sein, was wir natürlich nur allerhöchstens zehn Minuten lang durchhielten. Es gab im Hinterhaus einen kleineren Hausflur mit spiegelglatten Bodenfliesen, auf welchen wir herumschlitterten und Eiskunstlaufen spielten. Es gab aber auch einen riesigen Hausflur, in meiner Erinnerung erscheint er mir so groß wie ein Tanzsaal, was er bestimmt nicht war, der das Vorderhaus mit dem Hof verband. Trat man von der Straße aus in das Gebäude, gelangte man in einen ziemlich winzigen Flur, von welchem sofort die Treppen abgingen. Doch neben den Briefkästen befand sich eine Tür und wenn man diese öffnete, lag eine große Halle vor einem. Diese war so ausgedehnt, dass darin, so lange ich in diesem Haus lebte, immer irgendwelche Baustoffe, Bretter, Zäune u.ä. gelagert wurden, natürlich auch Fahrräder, und trotzdem blieb zum Spielen noch genug Platz. Auch auf diesen Fliesen konnte man schlittern, allerdings nicht so gut wie auf den anderen, weil sie ein eingekerbtes Muster hatten, während jene glatt waren. Hier hielten wir uns am meisten auf, weil wir hier am wenigsten störten. Von der Mitte des Flurs ging eine kleine Treppe zum zweiten Eingang der Küsterwohnung ab, der aber nicht benutzt wurde, so dass wir uns dort auf den Stufen niederließen und malten oder herumalberten.

Durch den zweiten Zugang zum Hof über die Hofeinfahrt eignete sich das Haus sehr gut zum Einkriegezeck spielen. Dabei rannten wir wie die Irren durch sämtliche Hausflure, ein Stück die Straße entlang, in die Hofeinfahrt hinein und von dort erneut in den Hausflur usw., immerfort im Kreis und immer bedacht, schneller als die anderen zu sein, bzw. es rechtzeitig mitzubekommen, wenn sie sich irgendwo versteckten, um einen abzufangen oder die Richtung wechselten. Da die Hausflure große, schwere Türen mit genauso schweren schmiedeeisernen Türklinken hatten, gegen die wir uns, als wir noch kleiner waren mit unserem ganzen Körper stemmen mussten, um sie öffnen zu können, schepperte und knallte es dabei nicht schlecht, wenn die Türen trotz Schließfederung hinter uns wieder in das Schloß fielen. Meist kam dann ziemlich schnell der Hausmeister herunter und drohte uns mit dem Zeigefinger. Einmal, ich war gerade wieder in der wildesten Verfolgungsjagd und wollte gerade durch die Hausflurverbindungstür entkommen, stand er dahinter und ich rannte genau in seinen rundlichen und gut gepolsterten Bauch. Das war mir äußerst unangenehm, auf diese Art auf frischer Tat ertappt zu werden, und er schimpfte natürlich mit uns, grinste dabei aber verdächtig amüsiert.

Zwischen dem kleinen Vorgarten und dem Kindergartenspielplatz stand das Küsterhäuschen, in welchem in zwei kleinen Räumen die Gemeindeverwaltung ihren Sitz hatte, welche aus der Küsterin bestand, die regelmäßig dorthin zur Arbeit ging. Zum Eingang des Häuschens führten zwei steinerne Stufen, die in der Regel unser Treffpunkt waren, um uns zusammenzufinden, oder wo wir saßen, wenn der Spielplatz vom Kindergarten belegt war. Und während es auf dem Kindergartenplatz keinen einzigen Grashalm gab, existierte ein abgeschlossenes kleines Wiesengebiet inmitten hoher Zäune, nämlich der Wäschegarten, der, wie der Name schon sagt, hauptsächlich dazu genutzt wurde, Wäsche aufzuhängen. Auch diese Wiese wurde von uns bald als Spielgebiet erobert, obwohl wir uns dort eigentlich nicht aufhalten sollten. So lange wir noch zu klein waren, um an die Drahtschlinge heranzukommen, welche die Tür am oberen Pfosten geschlossen hielt, suchten und gruben wir uns Löcher unter dem Zaun und krochen hindurch. M. hatte später sogar ein richtiges Indianerzelt, das er hier auf der Wiese aufschlug, welche ringsherum von Gebüsch umgeben und nicht leicht einsehbar war. Auf der Wiese spielten wir gerne mit den Wäschestangen, die normalerweise dazu gedacht waren, die Wäscheleinen zu halten, balancierten sie auf unseren Fingern oder simulierten japanische Stock- und Schwertkämpfe. Glücklicherweise hat nie jemand von uns so ein Teil auf den Kopf bekommen. Doch auch das Gebüsch barg viele Möglichkeiten. Zum Beispiel gruben wir dort nach Schätzen, nicht ohne an die Warnung unserer Eltern und der Lehrer vor verrosteten Granaten und Blindgängern zu denken, und fanden tatsächlich welche, nämlich alte Reichspfennige und ein totes Kaninchen, das man hier begraben hatte. Dieses ließen wir in Ruhe liegen, aber als wir einmal einen toten Vogel fanden, begruben wir ihn genau daneben.
Außerdem gab es ein kleines Stückchen Erde, welches die Eltern von M. mit Rosen und Erdbeerpflanzen bestückt hatten. Die Rosen blühten jedes Jahr wunderschön, aber die Erdbeerpflanzen trugen unerklärlicherweise für manche Erwachsene nie Erdbeeren, denn die hatten wir schon längst weggeputzt, bevor jemand anderes sie ernten konnte.

An den Wäschegarten schloß sich der Hof des Nachbarhauses an, welches ein gewöhnliches Wohnhaus war und nicht mehr zur Kirche gehörte. Der Hof war relativ klein, und an zwei Seiten von dem hohen Gebäude, an den anderen Seiten von alten Kastanien umschlossen, weshalb er immer sehr düster und dunkel wirkte. Aus diesem Haus stieß die vierte Mitspielerin zu unserer Truppe, nämlich K., die mit M. und mir in eine Klasse ging und in diesem Haus mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und dem verspielten Schäferhund Arko wohnte. Er hatte ein lustiges Schlappohr und man konnte mit ihm prima Verstecken spielen, indem man sich hinter einem Baum verbarg und er so lange suchte, bis er einen gefunden hatte, wobei er vor Freude hoch sprang und einen fast umwarf. Leider ging sie schon nach zwei oder drei Jahren mit ihren Eltern in den Westen. Danach habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.

Der Kindergartenspielplatz bot wieder ganz andere abenteuerliche Vergnügungen. Der eine Teil davon war um zwei große Sandkästen herum gepflastert, der andere Teil bestand nur aus staubiger Erde. Der ganze Platz wurde auf der Längsseite, die an das Baugelände grenzte, von hohen Pappeln umstanden. Auf der anderen Seite wachte eine alte Platane vor dem Küsterhaus, das direkt die Grenze zum Hof bildete. In einem der Sandkästen befand sich ein Klettergerüst, welches ein Propellerflugzeug nachbildete und vorne an der Heckspitze, sogar einen echten kleinen Propeller besaß, den man mit der Hand herumwirbeln konnte und der dann einen in den Zähnen ziehenden, metallischen, gräßlichen Lärm machte. Entweder hingen wir uns von unten an die Propellerflügel ran oder aber, wer ganz mutig war, kletterte bis ganz nach oben auf die hervorstehende "Schnauze" des Flugzeugs und drehte als Flugzeugführer dort am Rad. Am Flugzeugschwanz dagegen waren zwei Schaukelhaken befestigt, die Schaukel dazu besaß aber leider nur M., dem ich die Möglichkeit zu Schaukeln so oft wie es ging abknöpfte, da ich es liebte. Wir schaukelten so wild und maßlos, dass die metallischen Haken schnell durchgescheuert waren und es einigermaßen gefährlich wurde, sich noch auf die Schaukel zu wagen. Wir mussten dann warten, bis M.'s Opa, der Hausmeister, neue Haken angebracht hatte und das Warten fiel unendlich schwer.

Der Flugzeugrumpf bestand aus einem schmalen Gang und zwei rechteckigen Flügeln, die wir gerne dazu benutzten, uns aus Decken, Brettern und was wir sonst noch für Baustoffe fanden, Wohnungen zu bauen. Zum Beispiel wurde eine Decke als Dach oben drüber gelegt, andere Decken wurden über die seitlichen Streben gehängt und ein kleineres Tuch vor den Eingang. Dann suchte man sich ein altes Brett, wir montierten dazu gerne die Bretter des schmalen Sitzes, bzw. Ganges ab, der die beiden Sandkästen voneinander trennte, und legte es quer über die unteren Streben. Schon hatte man eine Bank, auf der man sitzen konnte. Für unsere Bauaktivitäten schleppten wir jeden Tag Berge von alten Decken nach draußen und jeden Abend rissen wir unsere kunstvoll erbauten Hütten wieder ab. Bald erfanden wir eine neue Art zu Bauen, nämlich indem wir dazu die langen bunten Holztische und -bänke, an denen die Kinder im Sommer zu Mittag aßen, mißbrauchten. Wir schleppten sie zu zweit und zu dritt durch die Gegend, um sie kreuz und quer zu Wohnungsgrundrissen zu stapeln, und ließen uns in den erdachten "Zimmern" häuslich nieder.

Gleich am zweitbeliebtesten, nach dem Erschaffen luxuriöser Domizile, war das Buddeln, insbesondere mit dem Zusatz von Wasser. Wir buddelten um die Wette bis wir auf den Sandkastenboden stießen, in die so entstandenen tiefen Löcher füllten wir Wasser und stiegen schließlich mit den Füßen hinein. Oder aber, wir bauten kunstvoll angelegte Burganlagen mit schützenden Wassergräben rundherum, in welche das Wasser aus den geschickt eingegrabenen Gängen innerhalb der Burg floß, wenn man es am oberen Burgeingang hineingoß. Ging es an das Einpacken, gossen wir noch einmal ordentlich Wasser nach und sprangen mit beiden Beinen auf das Bauwerk rauf, so dass alle unterirdischen und oberirdischen Gänge in sich zusammenstürzten und nur noch eine einzige Eierpampe vorhanden war. Meist hatten wir am Ende eines Tages so viel Sand auch außerhalb des Sandkastens verstreut, dass es zum abendlichen Ritual wurde, nachdem die Buddelsachen in heimatlichen Gefilden verstaut waren, noch einmal mit einem Besen die Treppen hinunterzurennen, um den Sand dorthin zurück zu befördern, wo er hingehörte und gleichzeitig die letzten Züge des sommerlichen Spielabends zu genießen, der bald vom lästigen Zubettgehen unterbrochen werden würde.

Für meine Mutter war es teilweise recht schwierig, mich abends wieder nach Hause zu kriegen, denn wenn ich nicht wollte, weigerte ich mich und blieb einfach unten. Wenn die anderen Kinder inzwischen von ihren rigeroseren Eltern an Händen und Füßen und unter Aufbietung aller Kräfte in die Wohnung gezerrt worden waren, denn sie wollten natürlich ebenfalls lieber weiterspielen und gaben dafür trotzig als Grund an, dass ich ja auch viel länger unten bleiben dürfe, spielte ich alleine weiter. Ich buddelte so lange, bis ich in der Dunkelheit meine eigene Hand nicht mehr vor Augen sah. Erst dann packte ich meine sieben Sachen zusammen und tappte zurück ins Haus, wo meine Eltern in der Regel vor dem Fernseher hingen oder Mama sogar schon eingeschlafen war.
Weil ich stets irgendwann wieder zurück nach Daheim fand und meine Mutter sich den Stress einer abendlichen Erziehungstragödie ersparen wollte, blieb es mehr oder weniger dabei, dass ich, zumindest wenn keine Schule war, so lange draußen bleiben konnte, wie ich wollte, etwas, was die anderen Kinder nicht durften.

Und dann gab es da noch diesen staubigen Teil des Kindergartens. Er eignete sich gut zum Ballspielen, da viel Platz war und überall lagen Autoreifen herum, insbesondere doppelte LKW-Reifen, mit denen man herrlich Reiter und Pferd spielen konnte, wenn man sie aufrichtete - meist machten wir das zu zweit, weil sie ziemlich schwer waren -, und sich rittlings auf sie hinauf schwang. Dabei musste man aufpassen, dass der Reifen nicht von der Stelle rollte, was er schnell früher oder später machte, wenn man nicht genau sein Gewicht auf den Mittelpunkt verlagerte. Auch Bockspringen übte ich mit ihnen gerne. An einer Seite des Platzes lag ein gefällter und entästeter Baumstamm, auf dem man Balancieren oder ebenso nur sitzen konnte und in einer Ecke stand ein Holzauto in Form eines LKWs mit einem richtigen Lenkrad vorne und Sitzbänken hinten. Später, als es fast auseinanderfiel, wurde es entsorgt und an der gleichen Stelle ein kleiner Hügel aufgeschüttet, zu welchem Zweck ist mir bis heute unklar. Aber er eignete sich ganz gut, um im Winter mit dem Schlitten oder Gleitern hinunterzufahren, obwohl es dazu noch einen besseren Platz gab - schräg hinter der Kirche, auf dem Hof eines normalen Wohnblocks, hatte man die Höfe tiefer gelegt und der Übergang war ein recht imposanter Abhang, der im Winter von Kindern und Schlitten nur so wimmelte. Auch auf diesen Hof weiteten wir unsere Entdeckungstouren aus, ebenso wie auf einen Spielplatz, einige Straßen weiter, der mir ziemlich suspekt war. Das lag wohl daran, dass er sich zwar großflächig ausdehnte, eigentlich nicht nur ein normaler Spielplatz, aber irgendwie brach lag. Außer einem Sandkasten und ein paar Tischtennisplatten fand man darauf nicht viel, bis auf eine merkwürdige Anlage, die aus bogenförmig angeordneten Metallstangen bestand, welche kleine Löcher hatten. Heute würde ich sagen, dass es wohl eine alte Wasseranlage war, vielleicht eine Art Kinderplanschbecken, wo das Wasser aus den Stangen herausrieselte. Doch zu meiner Zeit blieb alles trocken.

Der Spielplatz lag auf der Strecke eines typischen und einprägsamen Weges meiner Kindheit. Diesen Weg gehe ich sogar heute noch manchmal in meinen Träumen. Er begann mit dem alten Konsum an der Ecke, in dem wir uns von unserem Taschengeld, Zitronendrops, Puffreis, Liebesperlen oder Eis holten, und führte an mehreren Querstraßen vorbei bis zu unserem Bäcker, von dem ich regelmäßig die Brötchen für das Wochenende auf Geheiß meiner Eltern besorgte. Und zwar sehr leckere Brötchen, solche, die ich heute die DDR-Brötchen nenne. Wenn man auf die andere Straßenseite des Weges schwenkte, gelangte man an einer Kreuzung auf die routinemäßige Einkaufstour meiner Mutter, auf die sie mich manchmal mitnahm. Gleich links der kleine Gemüsehändler, in dem es stets haufenweise strohig-grüne, kubanische Apfelsinen und Kohlköpfe gab, aber sonst kaum etwas, ein Stückchen weiter die Straße hinunter der Käseladen, in dem hunderte von Käse, in den Vitrinen ausgestellt, einen verführerisch würzigen Duft von sich gaben, der mir jedesmal das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, wenn ich ihn betrat, um die Ecke auf der größeren Hauptstraße der Fischladen, wo noch echte lebende Fische in den Bottichen herumschwammen, welche von den Verkäuferinnen mit Fischnetzen eingefangen und denen im Bruchteil einer Sekunde mit einem langen Messer der Garaus gemacht wurde, während sie weiterhin mit den Flossen zappelten, dann zurück an unserem Konsum vorbei, wo meine Mutter beim Einkauf kleine Marken sammelte, die sie zu Hause in ein kleines Heftchen einklebte, genauer gesagt meistens mich kleben ließ.

Fortsetzung folgt

Dienstag, 8. August 2006

Mein Elternhaus - Wohnungen und Bewohner 2

Ganz oben unter dem Dach wohnte, wie bereits erwähnt, mein Spielfreund M. mit seinen Eltern und ich beneidete ihn stets um das große Kinderzimmer, das er sein Eigen nannte. Es hatte sogar Teppichboden, eine Couch und einen Fernseher. Die Wohnung selbst war zwar viel kleiner, unsere dagegen doppelt so groß, aber die hundert Quadratmeter erstreckten sich bei uns hauptsächlich in einer riesigen Diele und einem gigantischen Durchgangszimmer und natürlich brauchte mein Vater jede Menge Platz, genauer gesagt, ein großes und ein kleines Zimmer, für seinen ganzen Krempel, den er aufhob. Für die Kinder blieben da nur noch eine Kammer und der Wintergarten. Als mein Bruder, der fünfzehn Jahre älter ist als ich, ungefähr mit 21 Jahren auszog, konnte ich endlich aus dem Wintergarten, der von allen Seiten durch Glas einsehbar war uns außerdem nicht beheizt, da von der Wärme des Kachelofens im riesigen Wohnzimmer, auch wenn man die Tür offen stehen ließ, nicht mehr viel dort hinein kam, in ein richtiges Zimmer ziehen. Ich habe meine ganze Kindheit hindurch kein vernünftiges Bett besessen, bis auf das erste Gitterbettchen. Als ich dafür zu groß wurde, schlief ich auf einem uralten und brettharten Chaiselonge mit einem genauso hartem, und mir als Kind besonders hoch erscheinendem halbrundem Höcker als Kopfteil. Dass ich mir dadurch nicht noch größere Verrenkungen und Verkrümmungen geholt habe, ist ein Wunder, meine Mutter ist der Meinung, dass die leichte Wirbelsäulenverkrümmung vererbt ist, ich bin mir da nicht so sicher. Später übernahm ich das Klappbett von meinem Bruder. Blöd nur, dass es so durchgelegen war, dass ich mit dem A..... bis auf dem Boden hing. Ich habe mir dann heimlich aus unserer Rumpelkammer ein großes Brett, die mein Vater ebenfalls in Massen aufhob, mitgenommen und unter die Matratze gelegt. So habe ich ganz gut die nächsten Jahre in der "Waschschüssel", wie mein erster Freund es nannte, überstanden.

Das Seltsame ist, dass ich das eigentlich selbst jetzt noch alles ganz normal finde, weil ich es nicht anders kannte und irgendwie wäre ich damals nie auf die Idee gekommen, mich vor meine Eltern hinzustellen und konsequent ein vernünftiges Bett zu fordern, obwohl sie es sich durchaus hätten leisten können. Es lag vielleicht daran, dass ich mich damals noch nicht um solche Dinge wie Betten kümmerte, aber wenn ich mich in meine Kindheit zurückversetze, dann fällt mir auf, dass ich eigentlich nie irgendwas, sei es Spielzeug, Süßigkeiten oder was man als Kind sonst so mag, vehement gefordert habe. Meistens war ich schon zufrieden, wenn man mich einfach in Ruhe ließ und die Idee, mir etwas zu kaufen, gingen in der Regel von meiner Mutter aus, die mir ab und zu gerne mit Kleinigkeiten eine Freude machte und mir dabei aber auch regelrecht Dinge aufzwang, die sie mir unbedingt kaufen wollte. Größere Ausgaben mußten jedoch immer über meinen Vater gehen und meine Mutter übernahm dann meist die Aufgabe, die ich selbst ablehnte, ihn monatelang zu beknien, damit er das Geld herausrückte. Überhaupt graut es mir im Nachhinein vor meiner krankhaften Bescheidenheit in der Kindheit, krankhaft deshalb, weil ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass sowas für ein Kind normal ist. Schlagartig bewußt ist mir dies aber erst vor einigen Jahren geworden, als ich bereits erwachsen und zu Besuch bei meinen Eltern war, durch eine völlig belanglose Begebenheit. Es gab zum Mittagessen Schnitzel, die ich besonders gerne esse, und wie ich es seit Kleinauf kannte, erhielt mein Vater auf seines noch ein gebratenes Ei obenauf. Ich hatte auf mein Schnitzel niemals ein Ei bekommen und heute sagte ich es: "Warum bekommt Papa eigentlich immer ein Ei und ich nicht?" Meine Mutter sah mich an und antwortete: "Ach, du willst auch ein Ei? Warum hast du denn nie etwas gesagt?" Und da stand ich wie vom Donner gerührt. Ja, wieso nicht? Wieso hatte ich all die Jahre nie etwas gesagt, obwohl ich doch genau weiß, dass ich auch immer ein Ei wollte?
Der Anlass mag unwichtig und nebensächlich erscheinen, aber zum ersten Mal kam mir der Gedanke, vielleicht nicht genug zu mir selbst und meinen Wünschen zu stehen, sie bisher gar nicht erst geäußert, ja vielleicht nicht einmal bewußt eingestanden, sondern unterdrückt zu haben, nur um eventuellen Ärger zu vermeiden und nicht als so maßlos zu gelten wie mein Vater. Seitdem versuche ich bewußt, mir etwas wert zu sein und nicht an mir zu sparen. Trotzdem ertappe ich mich auch jetzt noch oft bei den alten, eingeschliffenen Mustern, zum Beispiel, wenn ich irgendeinen schäbigen, abgegriffenen Gegenstand in die Hände kriege, den ich schon seit Jahren benutze und bei mir denke "Der geht doch noch.". Dann erwacht jetzt oft mein distanzierter Ich-Beobachter und greift sofort ein: "Halt, Moment mal! Geht doch noch? Gut genug für dich? Warum nicht gleich - schlecht genug für dich?" Auch bei meiner Mutter erwacht er häufig, um genau dieses Muster zu beobachten, denn sie gibt sich meist mit so wenig zufrieden, dass man sie manchmal geradezu schütteln möchte. Erst letztens, als mein Cousin das Schlafzimmer meiner Eltern renovierte, habe ich sie gefragt, warum sie sich nicht gleich einen neuen Fußbodenbelag kauft und von meinem Cousin verlegen läßt. An Geld mangelt es nicht und das alte Linoleum ist so furchtbar, dass man es nicht beschreiben kann. Es ist dieser typische DDR-Plattenbaubelag, der obligatorisch in diesen Wohnungen ausgelegt wurde, ein psychedelisches Muster in Kotzgrün, schon so abgewetzt, dass er teilweise mit der alten Parkettimitation aus meiner Kindheit ausgebessert wurde. "Ach, der geht doch noch." sagt meine Mutter.

Immerhin hatte ich dafür in meinem Zimmer einen Luxus, den sonst keiner besaß, nicht einmal M., nämlich ein eigenes Waschbecken mit kaltem Wasser. Dieses hatte sich mein Bruder, der Klempner lernte, eigenhändig eingebaut, was kein großes Problem war, da ja die Wasserleitung des herrschaftlichen Bades durch die Wand führte. Und weil von meinem Zimmer aus unser Bad am anderen Ende der Wohnung lag, also ungefähr fünf Kilometer entfernt, war es dort sehr nützlich, wurde von mir aber auch gerne mißbraucht, um Plastikboote auf dem Wasser darin segeln zu lassen oder meine Pullerpuppe nachzufüllen.
Und noch etwas gefiel mir an dem Zimmer, nämlich die alte, breite Fensterbank, auf die man sich locker mit dem ganzen Körper draufsetzen konnte, und die hinter zwei Türen einen geräumigen kleinen Schrank verbarg.
Meine Katze schaffte es manchmal geschickt, eine Tür aufzuziehen, um sich dann im Schrank aus den Büchern, die ich darin aufbewahrte, ein Nest zu bauen, indem sie die Pappeinbände so mit ihren Krallen bearbeitete, dass nur noch kuschelige Fetzen übrig blieben.

Eine Wohnung fehlt noch und das ist die, welche zwischen der des Kantors und der von M. lag. Da werden die frühen Erinnerungen ganz blaß, aber ich glaube, dass dort anfangs eine alte Frau wohnte. Ich bin mir nicht sicher, vielleicht hat sie auch vor einem der erwähnten Mieter in einer anderen Wohnung gewohnt, aber es steht felsenfest, des es eine alte Frau gegeben hat, denn ich kann mich entsinnen, dass meine Mutter mich einmal zu einem Besuch an ihr Bett mitnahm und ihr eine echte Apfelsine schenkte. Wahrscheinlich ist sie schon gestorben, als ich noch sehr klein war.
In dieser Wohnung jedenfalls lebte später eine alleinstehende und rundliche Pastorin. Mein Vater konnte sie nicht leiden und hat sich gerne, natürlich nur bei uns im Geheimen, über sie lustig gemacht, doch meiner Mutter hatte Frau G. in einer Zeit sehr geholfen, als sie ständig unter Panikattacken und Kreislaufproblemen litt und mein Vater im Krankenhaus lag, weil man erst eine Gelbsucht diagnostiziert hatte, aber dann feststellte, dass es doch nur ein Gallenstein war. Wenn meine Mutter wieder einmal von der U-Bahn in das Krankenhaus gefahren worden war, wartete ich manchmal nach der Schule bei Frau G., bis sie nach Hause kam, oder aber, wenn es Mama zu Hause schlecht ging, schickte sie mich zu ihr hoch und sie kam dann, und packte meiner Mutter kalte Eisbeutel auf die Stirn.

Als sie ausgezogen war, stand die Wohnung eine ganze Weile leer und sobald meine Eltern aus der Dienstwohnung ebenfalls ausziehen mussten, brachten sie mich, die ich inzwischen siebzehn Jahre alt war, in einem separaten Zimmer der Wohnung als Untermieterin unter, damit ich so bald wie möglich meine eigene Wohnung erhalte, denn in der DDR dauerte das normalerweise ein paar Jahre. Mein Vater bezahlte jeden Monat Fünfzig Mark für das Zimmer, genauso viel, wie später meine eigene richtige Wohnung kostete.
Um in die Küche und das Bad der Hauptwohnung zu gelangen, musste ich stets über den Hausflur, zum Kochen hatte ich eine kleine Elektrokochplatte im Zimmer und zu essen gab es alles, was sich ohne Kühlschrank ein paar Tage frisch hielt. Als einige Monate darauf die neue Pastorin in die Hauptwohnung einzog, musste ich mir mit ihr die Küche und das Bad teilen. Leider begann sie bald eine Liason mit jemandem aus dem Kirchenrat und ich hatte das Gefühl, dass er mich bespitzelte. Ich bin mir immer noch ziemlich sicher, dass er ein inoffizieller Mitarbeiter war, wirklich wissen tue ich es aber nur von ihr, da sie nach der Wende wegen ihrer Stasiaktivitäten suspendiert wurde. Als ich das hörte, musste ich daran denken, wie sie mich, gleich zu Beginn, zum Abendessen eingeladen hatte und mir die ganze Zeit über erzählte, wie sie und ihr Vater vom DDR-Regime drangsaliert worden sind, mit Berufsverboten und was weiß ich. Nun ja, hätte mir vielleicht gleich komisch vorkommen sollen, dass sie das jemandem, den sie nicht kennt, so auf die Nase bindet.

Fortsetzung folgt

Montag, 7. August 2006

Mein Elternhaus - Wohnungen und Bewohner 1

Nach einigen Jahren ist Frau Sch. in ein kleines, altersgerechtes Domizil umgezogen und die Wohnung über uns wurde für die Familie des neuen Pfarrers frei, der in unsere Gemeinde kam. Dieser war mir von Anfang an unsympathisch, was sich mit den Jahren noch steigerte und seinen krönenden Höhepunkt und Abschluß in dem Brief fand, den ich von ihm anlässlich meines Kirchenaustritts erhielt, worüber ich an anderer Stelle schon einmal berichtete. Man merkte mit der Zeit, dass er sehr ehrgeizig war, Ehrgeiz gepaart mit einer unangenehmen Härte und Kälte, und während ich mir damals noch dachte, ich bilde mir dieses nur ein, wurde letztendlich mein erster äußerer Eindruck durch sein Handeln und seine Äußerungen bestätigt. Trotzdem konnte er auch sehr charmant sein und aalglatt, überhaupt war es ein äußerst attraktiver Mann. So attraktiv und gutaussehend, dass man sich heimlich, bzw. mein Vater tat es auch offen, fragte, was er mit dieser Frau wollte, welche seine Ehefrau war. Jene gab das Musterbeispiel für etwas ab, was man gemeinhin in Berlin ein Bauerntrampel nennt. Unansehnlich, behäbig und immer irgendwie verhuscht und geduckt, mit dem Gebaren einer Dienstmagd, war sie jedoch von der ganzen Familie noch diejenige, die am freundlichsten und menschlichsten wirkte.
Die beiden Söhne, Zwillinge, kamen zumindest vom Aussehen her ganz nach ihrem Vater und es dauerte nicht lange, bis jeder festgestellt hatte, dass sie unausstehlich waren.
Sie zogen im Alter von ca. 5 Jahren ein, also für unseren höfischen Spielkreis viel zu jung, nichtsdestotrotz versuchten wir anfangs, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlen, mit ihnen in Kontakt zu kommen und bei einigen Spielen zum Mitmachen einzuladen. Doch wir merkten bald, dass sie daran kein Interesse hatten, im Gegenteil, es schien ihnen viel mehr Spaß zu machen, unsere Spielrunden zu stören und sich mit einer großspurigen Dreistigkeit über unsere Einfälle lustig zu machen. Da sie immer zu zweit waren, fühlten sie sich anscheinend mächtig stark, mußten aber bald einsehen, dass wir, die wir zu dritt waren und außerdem viel älter und größer, uns von ihnen unseren Spaß nicht verderben lassen würden. Es endete damit, dass niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben wollte und sie weiterhin alleine spielten, nur S. der Bruder von Susi, der ungefähr im gleichen Alter war, schloß sich ihnen manchmal an, allerdings hatte man den Eindruck, dass sie ihn teilweise ganz schön fertig machten, jedenfalls kam er oft heulend angelaufen.
Auch meine Eltern hatten, nachdem der neue Pfarrer mit seiner Familie eingezogen war, keine Ruhe mehr, denn eine Etage über uns hatte man das große Durchgangszimmer, welches bei uns als Wohnzimmer diente, anscheinend zum Fußballzimmer umfunktioniert.

Darüber, im Dachgeschoss, wohnte Familie B., jedoch kann ich mich nur noch an die hagere, dunkelhaarige Frau und den schon jugendlichen, älteren Sohn erinnern, der immer in Parka und Sandalen herumlief und schon die 10. Klasse, bzw. später seine Ausbildung absolvierte. Eines Tages schnappte ich, wahrscheinlich von meinen Eltern, das Gerücht auf, dass er schräg nach unten in das Badfenster des Kantors gespannt hätte, um dessen Frau beim Baden zu beobachten. Da ich nicht glaube, dass sich das jemand ausgedacht hat, wird es wohl so gewesen sein, und das Spannen ist in diesem Haus wegen der Winkelform wirklich einfach, da man so über Eck leicht in die Fenster auf der anderen Seite einsehen konnte. Im Vorderhaus hatten die Wohnungen viel weniger Zimmer und liefen parallel zur Straße, die im übrigen vor unendlichen Zeiten eine Spielstraße gewesen ist. Ich kann mich noch an Tage erinnern, als dort kaum ein Auto fuhr und ich mit meinem Bruder mitten auf der Straße Rollschuh gelaufen bin. Leider wurde schon ziemlich bald die Kleingartenanlage, die sich bis weit hinter die Kirche erstreckte, abgerissen, und danach Neubauten errichtet. Darauf war es dann vorbei mit der Spielstraße.

Im Paterre im Vorderhaus wohnte der Hausmeister, welcher gleichzeitig der Opa meines Spielfreundes M. war. Ganz früher hatten er und seine Frau einen schwarzen Pudel, der, wenn ich mich richtig entsinne, Hasso(?) hieß, aber schon bald gestorben ist. M. hielt sich tagsüber, wenn seine Eltern, die im Dachgeschoß des Vorderhauses wohnten, sich auf Arbeit befanden, immer unten bei seinen Großeltern auf. Zu dieser Wohnung gehörte nach hinten, auf den Hof raus, ein winziger (Vor)Garten, der liebevoll von der ganzen Familie gepflegt wurde und aus welchem wir manchmal Schnittlauch stibitzten, um darauf herumzukauen.

Die Wohnung über der des Hausmeisters und unsere Nachbarwohnung hatte stets der Kantor inne. In meiner Kindheit war das der Herr P., ein langer, schlaksiger, schwarzhaariger und immer gut gelaunter Mann mit einer dicken Brille, der irgendwie auf eine gewisse Art aristokratisch wirkte, ja, heute würde ich dazu fast tuntenhaft sagen, aber gerne Witze erzählte und Späße machte. Seine Frau sang in einem bekannten Rundfunkchor und da mein Zimmer direkt neben ihrem Bad lag, beide nur durch eine dünne, eingebaute Rabitzwand getrennt, hörte ich sie dort jeden Abend ihre Stimmübungen machen und wie eine Nachtigall trällern. Im übrigen war sie, genauso wie er, stets gut gelaunt und fröhlich, aber das hatte wohl nicht viel über ihre Ehe zu sagen, denn irgendwann ließen sie sich scheiden. Der Herr P. war auch der Leiter des Kirchenchores, zu dem ich wöchentlich ging, wobei der Begriff Kirchenchor für die paar Hansels ziemlich übertrieben wirkt. Und wenn ich nicht gerade in der Kirche vorsingen mußte, solche Auftritte habe ich schon damals gehasst, aber mich noch von Erwachsenen und Eltern überreden lassen, hat es mir großen Spaß gemacht. Generell fand ich die Nachmittage im Kirchenchor und bei der Christenlehre immer viel schöner, als die Pioniernachmittage in der Schule. Irgendwie war das alles familiärer ungezwungener, wahrscheinlich auch, weil nur wenige daran teilnahmen. In der Christenlehre spielten wir lustige Spiele (besonders gerne spielte ich eines, bei welchem man blind die Umrisse eines auf Pappe aufgedruckten Gegenstandes erfühlen und dann erraten musste, was es ist), bekamen Geschichten erzählt oder sangen Lieder. Zu Weihnachten stand in der Mitte des quadratischen Tisches, um den wir uns versammelten, jedes Jahr ein schönes Weihnachtsgesteck. Und ich hatte natürlich den riesigen Vorteil, dass ich nur im Haus eine Treppe höher steigen musste, um dort zu sein, genauso, wie ich in den Kindergarten nur durch das Hinunterlaufen einer Treppe gelangte. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich heute so eine Abneigung gegen lange Wege habe und immer zu faul bin, diese auf mich zu nehmen. Eben verwöhnt.

Aber zurück zu Herrn P. Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern, als ich im Wohnzimmer an unserem alten verstimmten Klavier saß und vor mich hinklimperte. Ich konnte nie richtig Klavierspielen, hatte mir aber selbst beigebracht, durch Ablesen von Noten und einer mit Faserstift aufgemalten Markierung des C auf den Tasten, einzelne Lieder aus einem Kinderliederbuch mit zwei bis vier Fingern nachzuspielen und dazu zu singen. Dies tat ich wieder einmal mit voller Inbrunst und bei geöffnetem Fenster, als ich, nachdem ich geendet, ein lautes Klatschen hörte. Neugierig lief ich zum Fenster und da stand die Frau des Kantors, die gerade ihren Trabi auf dem Hof gewaschen hatte, und applaudierte zu mir hoch. Ein kleines bißchen war es mir ja peinlich, aber irgendwie überwog doch die Freude über diesen unverhofften Applaus. Der Herr P. hat übrigens später die Gemeinde verlassen und statt dessen im damals neuen Schauspielhaus Berlin Orgel gespielt. Danach ist ein Kantor gekommen, mit schmalzigen Kringellöckchen, Brille und mürrischem Gesicht, der irgendwie auf mich ebenfalls eher unsympathisch wirkte. Nun sang nebenan im Bad niemand mehr, aber dafür hörte ich ihn fast jeden Abend zusammen mit seiner Frau baden. Als ich den anderen Kindern dies erzählte, fanden sie das irre lustig und sagten das sofort ihren Eltern weiter. Schließlich wußte jeder im Haus, dass der Kantor zusammen mit seiner Frau in der Badewanne badet, aber was soll's - er wird darüber hinweg gekommen sein.
Als ich irgendwann das Alter erreicht hatte, wo ich nicht mehr auf dem Hof spielte, sondern stattdessen Westradio, mit den neuesten Popsongs und Charts hörte (und nicht nur das - ich sang auch gerne mit), beschwerte er sich einmal bei meinem Vater, dass ich ständig JAZZ höre. Nun ja, Jazz ist etwas völlig anderes und bis auf Swing überhaupt nicht mein Fall, aber ok, als Kantor soll man zum Glück nur Orgel spielen können.

Fortsetzung folgt