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Das vergessene Poesiealbum

Sonntag, 13. März 2011

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Geduld und Ungeduld haben keinen Wert für sich, sondern einen funktionellen Nutzen. Die jeweilige Herausforderung muss bestimmen, ob ich ungeduldig fordere oder geduldig reifen lasse. Nicht der geduldige Mensch ist der reife Mensch, sondern derjenige, der fähig ist, angepasst sowohl geduldig als auch ungeduldig zu sein. Entwicklungsaufgaben bemessen sich zudem nicht an einer allgemein verbindlichen Norm, sondern an der persönlichen Ausgangssituation; somit kann diese Aufgabe für einen Menschen "Geduld", für den anderen aber "Ungeduld" heißen.
(aus "Die Kunst der langen Weile" von Ulrike Zöllner)

Samstag, 5. März 2011

Verbesserungsvorschlag

Zwar ist der Roman "Gegen den Tag" für sich bereits 1600 Seiten lang, dennoch finde ich Thomas Pynchon hat etwas vergessen, das sozusagen wie die Feder auf das Papier in dieses Werk passen würde. Gemeint sind diese abstrusen Gesetze, die als Belustigung auf Parties sehr beliebt sind, wie zum Beispiel, daß in Kentucky kein Mann ohne Begleitung einer Frau einen Hut kaufen darf (diese Vorschrift allerdings finde ich ziemlich einleuchtend). Der Roman spielt ja zumindest in den ersten 500 Seiten, die ich bisher kenne, weitgehend im goldenen Westen, und irgendwie muß ich ständig beim Lesen an diese diversen Gesetzgebungen denken. Könnte natürlich sein, daß er sie eingebaut hat, ohne daß ich sie konkret erkenne, oder aber, sie folgen erst auf späteren Seiten. Tatsächlich scheint das Buch aber von ihnen zumindest inspiriert zu sein, anders kann ich mir diese seltsame Assoziation nicht erklären.

"Worum ging es denn da eben?", fragte Wren.
An dieser Stelle griff normalerweise die langgeübte Gewohnheit, Informationen zurückzuhalten, vor allem vor jungen Frauen, denen man aktuell den Hof machte. Einmal hatte Frank, als er draußen auf dem Uncompahgre-Plateau von Gunnison oder sonst wo zurückgeritten kam, meilenweit entfernt eine einzelne, dunkle und kompakte Sturmwolke erspäht und trotz des hellen Sonnenscheins und des weithin klaren Himmels gewusst, dass sein Weg und der der Wolke sich kreuzen würden, ganz gleich, in welche Richtung er sich nun wandte, und knapp eine Stunde später war es denn auch so dunkel geworden wie um Mitternacht, er war bis auf die Haut durchnässt worden, hatte, von den um ihn herum donnernd einschlagenden Blitzen vorübergehend taub, erbärmlich gefroren und sich tief über den Hals seines Pferdes gebeugt, um dem Tier zu versichern, dass alles in bester Ordnung sei, obwohl das Geschöpf, als echtes Weidepferd, schon weit Schlimmeres erlebt und gleich darauf versucht hatte, Frank zu beruhigen. An diesem Abend in Albanay erkannte Frank, dass Wren nach ungezählten Kilometern und Kreuzwegstationen genau hier angekommen war - im Licht des großen Spiegels war ihr Gesicht von einem sonderbar schattenlosen, celesten Blau, das Gesicht einer Sucherin, so erschien es Frank, die so weit gekommen war, wie sie musste, um zu fragen, was zu beantworten er am wenigsten bereit war. Er begriff, dass solche Wesen auf der Welt unterwegs waren und man vielleicht sein Leben lang keinem begegnete; falls aber doch, wurde es zur feierlichen Verpflichtung zu sprechen, wenn man angesprochen wurde.

Sonntag, 27. Februar 2011

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Jedes Gebiet des menschlichen Wissens umfaßt auch unendlich viel Poesie. Viele Dichter hätten das längst begreifen müssen.
Um wieviel wirksamer und erhabener könnte das beliebte Thema des Sternenhimmels werden, wenn die Dichter, die darüber schreiben, mehr von der Astronomie wüßten!
Natürlich kann man von einer Nacht über den Wäldern schreiben und von einem Himmel ohne Gesicht; doch das bleibt ohne rechte Ausdruckskraft. Ganz anders hingegen erscheint uns die gleiche Nacht, wenn der Dichter die Bewegungsgesetze der Sternensphäre beherrscht und wenn sich im schwarzen Wasser der herbstlichen Seen nicht irgendein Sternbild im allgemeinen spiegelt, sondern der prachtvolle und traurige Orion.

(aus "Begegnungen mit Dichtern" von Konstantin Paustowski)

Freitag, 25. Februar 2011

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Ja, der Chirurg, der hat es fein,
der macht dich auf und schaut hinein.
Er macht dich nachher wieder zu
- auf jeden Fall hast du jetzt Ruh,
wenn mit Erfolg für längere Zeit,
wenn ohne für die Ewigkeit.

(Eugen Roth)

Donnerstag, 17. Februar 2011

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Die Psychologie des Schaffensprozesses ist heutzutage noch wenig erforscht. Das erklärt sich aus der ungewöhnlichen Kompliziertheit dieses Prozesses, der bei verschiedenen Schriftstellern sehr unterschiedlich verläuft und sich nur schwer in die Grenzen irgendwelcher genauen Formeln oder Gesetze zwängen läßt. Mitunter ist er auch den Schriftstellern selbst unerklärlich. Die meisten von ihnen können nur wiedergeben, was sie empfinden, während sie etwas schaffen, aber sie sind nicht in der Lage, das, was dabei in ihnen vorgeht, zu erklären; sie können den Schaffensprozeß einfach nicht nüchtern analysieren und sein Wesen ergründen. Das weist diesen schöpferischen Vorgang als eine so unmittelbare Funktion unseres Bewußtseins aus, daß er selbst seinen Trägern oft unfaßbar bleibt. Viele Schriftsteller wird man vergeblich nach dem Wesen des Schaffensprozesses fragen. Sie vermögen nicht zu antworten, wie ja auch die Vögel nicht erklären können, wie sie ihre Lieder singen.
(aus "Begegnungen mit Dichtern" von Konstantin Paustowski)

Freitag, 4. Februar 2011

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Ein wenig war er wie dieser Leuchtturm. Er war einsam und unnahbar. Er war hochmütig, zweifellos war er das, und in sich selbst gehüllt. Er war dunkel. In Babel Dark brannte niemals Licht. Die Instrumente waren alle an ihrem Platz und glänzten, doch es brannte nie Licht.
Hätte sie niemals in einem kalten Zimmer Feuer gemacht...
Doch wenn sie schlief, wenn sie allein war, wenn die Kinder still waren, umspülte ihn ihr Geist wie das Meer. Er war immer gegenwärtig. Er war ihr Navigationspunkt. Er bildete die Koordinaten ihrer Position.

(aus "Der Leuchtturmwärter" von Jeanette Winterson)

Donnerstag, 3. Februar 2011

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Früher war ich hoffnungslos romantisch. Ich bin immer noch hoffnungslos romantisch. Früher glaubte ich, die Liebe sei das Wertvollste überhaupt. Ich glaube noch immer, die Liebe sei das Wertvollste überhaupt. Ich erwarte nicht, glücklich zu sein. Ich glaube nicht, dass ich die Liebe finden werde, was auch immer das heißt, und wenn doch, glaube ich nicht, dass sie mich glücklich machen wird. Ich halte die Liebe nicht für die Antwort oder die Lösung. Ich halte die Liebe für eine Naturgewalt-stark wie die Sonne, genauso notwendig, unpersönlich, gigantisch, unmöglich, sengend wie wärmend, Dürre bringend wie Leben spendend. Und wenn er ausgebrannt ist, stirbt der Planet.
Meine kleine Umlaufbahn umringt die Liebe. Ich wage mich nicht näher heran. Ich bin keine Mystikerin, die die letzte Kommunion sucht. Ohne LSF 15 gehe ich nicht vor die Tür. Ich schütze mich.
Aber heute, wo die Sonne überall und alles Feste nichts als sein eigener Schatten ist, weiß ich, dass die wirklichen Dinge im Leben, die Dinge, an die ich mich erinnere, die Dinge, die ich in meinen Händen hin und her wende, keine Häuser sind, keine Bankkonten, keine Preise und Beförderungen. Woran ich mich erinnere, ist die Liebe-die Liebe zu allem-, die Liebe zu diesem staubigen Pfad, diesem Sonnenaufgang, die Liebe zu einem Tag am Fluss, dem Fremden, dem ich im Cafe begegnete. Sogar die Liebe zu mir selbst, wobei das Selbst von allen am schwersten zu lieben ist, denn Liebe und Egoismus sind nicht dasselbe. Egoistisch zu sein ist einfach. Diejenige zu lieben, die ich bin, ist schwer. Kein Wunder, dass ich erstaunt bin, wenn du es tust.

(aus "Der Leuchtturmwärter" von Jeanette Winterson)

Mittwoch, 2. Februar 2011

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Manche behaupten, die besten Geschichten seien die ohne Worte. Aber diese Leute sind nicht zum Leuchtturmwärter ausgebildet. Es stimmt schon, dass Worte flüchtig sind und wichtige Dinge oftmals ungesagt bleiben. Die wichtigen Dinge erfahren wir aus Gesichtern, aus Gesten, aber nicht von unseren gehemmten Zungen. Die wahren Dinge sind oft zu groß oder zu klein, jedenfalls immer in der falschen Größe, um in die Schablone unserer Sprache zu passen.
Das weiß ich. Aber ich weiß noch etwas anderes, denn ich bin zum Leuchtturmwärter ausgebildet. Dreht man den täglichen Lärm runter, breitet sich erst erleichterte Stille aus. Und dann kehrt ganz leise, so leise wie das Licht, der Sinn zurück.
Worte sind derjenige Teil der Stille, der ausgesprochen werden kann.

(aus "Der Leuchtturmwärter" von Jeanette Winterson)

Sonntag, 30. Januar 2011

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Doch immer wieder stahl sich Eis in sein nächtliches Träumen. Die zugefrorenen Kanäle. Die Sicherheit des Eises. Jede Nacht zum Eis zurückzukehren, wie in ein Zuhause. Sich waagerecht wie Eis unter der Oberfläche niederzulegen, in den schlosslosen, den nicht zu brechenden, den lange vermissten Schlaf zu sinken...Unten in der anderen Welt der Kindheit und der Träume, wo Eisbären nicht mehr tapsen und töten, sondern, kaum im Wasser und unter dem Eis schwimmend, große amphibische weiße Meeresgeschöpfe werden, so anmutig wie Delphine.
Als seine Großmutter ein Kind gewesen war, so hatte sie ihm einmal erzählt, hätten die Schwestern in der Schule eines Tages angekündigt, das nächste Thema seien Lebewesen. "Ich habe Eis vorgeschlagen. Sie haben mich vor die Tür geschickt."

(aus "Gegen den Tag" von Thomas Pynchon)

Sonntag, 23. Januar 2011

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An einem ihrer letzten Tage in offener Landschaft, während der Wind durch die hohe Indianerhirse wehte, sagte ihr Vater: "Da hast du dein Gold, Dahlia, und zwar das einzig wahre." Wie üblich warf sie ihm einen forschenden Blick zu, denn inzwischen wusste sie in etwa, was ein Alchemist war und dass keiner aus dieser windigen Bande sich jemals klar äußerte - ihre Worte bedeuteten immer etwas anderes, manchmal sogar, weil sich dieses "Andere" im Grunde vielleicht so der Sprache entzog, wie sich abgeschiedene Seelen der Welt entziehen. Sie sah zu, wie die unsichtbare Kraft unter den Millionen von Halmen wirkte, die so hoch waren wie ein Pferd samt Reiter, sah sie unter der Herbstsonne meilenweit fließen, größer als Atem, größer als die Wiegenlieder der Gezeiten, die notwendigen Rhythmen eines Meeres, das sich weit weg von jedem verbarg, der es suchen mochte.
(aus "Gegen den Tag" von Thomas Pynchon)